Plötzlich kommt der Spaß zurück

Mit seiner Silbermedaille über 10.000 m läuft Dieter Baumann bei den Europameisterschaften wie geplant bereits vor den 5.000 m in den Mittelpunkt des Interesses  ■ Von Peter Unfried

Budapest (taz) – Eigentlich läuft Dieter Baumann ja immer. Glaubwürdige Zeugen haben ihn sogar schon spät in der Nacht durch die dunklen Straßen von Budapest rennen sehen, auf der Suche nach seinem Hotel. Nichtsdestotrotz ist der Athlet glücklich darüber, daß er heute nicht unter Wettkampfbedingungen laufen muß, weil alle gemeldeten Teilnehmer in den 5.000m-Endlauf am Samstag passen. „Ich bin froh, daß der Vorlauf ausfällt“, sagt Baumann, „da habe ich drei schöne Tage Zeit.“ Der Körper muß sich erholen von den Strapazen des 10.000m-Endlaufs am Dienstag, der Baumann nach eigener Rechnung einen neuen Superlativ beschert hat. „Beim ersten internationalen Einsatz über die Strecke Zweiter geworden“, sagt er, „da bin ich unheimlich happy.“

Tatsächlich sah er auch unheimlich happy aus, wie er nach dem Rennen, den schmalen, schweißtropfenden Oberkörper entblößt, mit mittelgroßer Geste die Journalisten um sich scharte. Natürlich: Zweiter ist nicht Erster, aber „Pinto zu schlagen wäre eine Sensation gewesen“. Das Rennen lief aber normal, zunächst mäßig schnell, ein typisches Medaillenrennen und somit „genauso, wie wir gedacht hatten“ (Trainerin Isabelle Baumann). Am Ende lag Antonio Pinto (27.48,62 Minuten) vor Baumann (27.56,75) und Franke (27.59,90).

Der portugiesische Favorit hatte nach 6.000m die Spitze übernommen und danach eine Serie von Runden zwischen 63 und 64 Sekunden hingelegt, so daß ihm nach 7.100m nur noch die Deutschen Stephane Franke und Baumann folgten. Letzterem war aber bald erstens klar: „Ich überreize meine Karten.“ Zweitens: „Wenn er das durchsteht, ist er weg.“ Sechs Runden vor Schluß mußte Baumann ihn ziehen lassen und Franke auch, der aber 200m später seinerseits abgehängt war. Danach kam ein wunderbares Comeback von Baumann, der zwei Runden durchhing, hoffend, er werde seinen Rhythmus wiederfinden, und siehe: Plötzlich „kam der Spaß zurück“. Die Fähigkeit, sich so schnell zu erholen, nimmt der Läufer als Beweis, daß er mit dem Trainingsaufbau und einer weiteren Kilometersteigerung zu Saisonbeginn in Kenia richtig lag.

„Das ist schön“, sagt Baumann, „wenn man aus dem Rennen ist und dann plötzlich zurück.“ Anderthalb Runden vor Schluß lief er Franke davon. Der ist aber auch mit seiner zweiten Bronzemedaille nach 1994 „oberfroh“. Absprachen zwischen den Deutschen gab es im übrigen nicht. Franke, der „nicht die taktischen Möglichkeiten vom Dieter“ hat, also dessen Spurtvermögen, „mußte einfach dranbleiben: Je mehr abfallen, desto besser“.

Franke (33) ist ein gescheiter Mann, als Läufer im Vergleich zu Baumann aber eher Arbeiter als Künstler. Er will nun nach einigen Tests mit dem Marathon ernst machen und im September „seriös vorbereitet“ in Berlin antreten. Warum Marathon? Zuletzt war er bei Weltmeisterschaften Siebter, davor Vierter. „Ich glaube“, sagt er, „ich werde bei der WM keine Medaille mehr gewinnen.“ Die Weltspitze auf den Langstrecken kommt aus Ost- und Nordafrika. Als Europameister Pinto zuletzt in der Hitze Zürichs europäische Jahresbestzeit über 5.000m lief (13:02,86 min), merkte das zunächst keiner, weil er erst als Neunter ins Ziel kam. Dabei war das eine besonders erstaunliche Leistung des Mannes, der längst umgesattelt hat und zweimal den London-Marathon gewann.

Pinto wird über 5.000m nicht starten, dafür die Spanier Garcia, Pancorbo und Viciosa, alle, wie auch Mohamed Mourhit (Belgien), in dieser Saison unter 13:10 min notiert. Daß Verband und Öffentlichkeit offenbar schon eine Titelverteidigung Baumanns einplanen, kontert der Athlet mit einem Geständnis. „Ich muß gestehen“, sagte er nämlich pointiert, „die 5.000 m sind die härtere Strecke.“ Und hob an zu reden von dem Glück, das er in seiner Karriere gehabt habe, das ihn auch mal verlassen könne, und daß er eigentlich nur noch „die Kür“ vor sich habe.

Na ja: Der 5.000m-Titel ist natürlich schon das Ziel in einer Saison, in der Athlet und Trainerin Isabelle Baumann mal wieder eine komplette Kehrtwendung gemacht haben. Hieß die Vorgabe 1997 „der Dieter läuft nicht mehr um Medaillen“, sondern auf Zeit, ist es im 13. Athletenjahr wieder andersherum. Seinem Hauptarbeitgeber Golden League hatte er sogar in Zürich abgesagt, weil auch der Olympiasieger von Barcelona es etwas satt hat, im reifen Alter immer noch besser zu werden und wie zuletzt in Monte Carlo über 3.000m mit deutschem Rekord anzukommen, aber dennoch nicht mal im Blickfeld der Kameras zu sein.

In Budapest sind alle Kameras auf ihn gerichtet, und auch weniger extrovertierte Athleten wie Franke kriegen noch was ab. So viele deutsche Journalisten, wie Baumann gestern bei einem Schuhfirmen-Pressetermin lauschten, sieht er sonst das ganze Jahr nicht, und wenn er nach einem Rennen Journalisten in veritablen Trauben um sich scharen kann („Sind alle da? Können mich alle hören?“), so macht ihm das sichtlich Spaß. Manche, auch DLV- Kollegen, können dieses „Aufspielen“ zwar nur noch schwer ab, ebenso wie die mediale Taktik, mit einer späten offiziellen Entscheidung für einen 10.000m- und damit Doppelstart mal wieder die Schlagzeilen zu kriegen – das ändert aber nichts daran, daß es hochprofessionell ist. „Wenn Dieter Baumann einmal siegt und eine Medaille holt, kann er diese Erfolge zwei Jahre lang kultivieren“, sagte DLV-Präsident Helmut Digel gestern in einem SZ-Interview, um den Stellenwert der EM zu dokumentieren. Zumindest in diesem singulären Fall ist das wirklich so. „Liebe Leute, ich war nicht schlecht“, so spricht erstens nur Dieter Baumann. Zweitens völlig zu Recht.

Was aber ist, falls er es aus irgendeinem mißlichen Grund am Samstag nicht schaffen sollte? Dann muß halt dieser Grund die Schlagzeile abgeben.