Virtuelle Pflegefälle

Sozialbehörde will, daß künftig die Kassen für Behinderte zahlen. Die murren, und auch die Behindertenverbände sind sauer  ■ Von Judith Weber

Langsam durch die Wohnung gehen, mit etwas Hilfe selber essen: „Das Konzept der Wohngruppe ist für unsere Tochter lebensnotwendig“, erklärt ein Vater und bekommt Applaus, gestern bei der Anhörung vor dem Sozialausschuß der Bürgerschaft. Rund 150 Eltern behinderter Kinder, Träger von Betreuungseinrichtungen und Mitarbeiter der Pflegekassen sind gekommen, um mit SPD-, CDU- und GAL-Abgeordneten zu diskutieren.

Der Anlaß des Treffens: Die Sozialbehörde will weniger Geld für Behinderte ausgeben. Statt ihrer sollen künftig die Pflegekassen für Menschen aufkommen, die in Wohngruppen leben und „erheblich pflegebedürftig“ sind. In Hessen gibt es bereits eine dementsprechende Vereinbarung; nun möchte Hamburg nachziehen.

Derzeit bekommen die meisten Behinderten in der Hansestadt Sozialhilfe. Die Kassen zahlen lediglich 500 Mark pro Monat dazu – obwohl ihr Höchstsatz für schwere Pflegefälle 2800 Mark beträgt. Doch Wohngruppen werden nicht als Pflegeeinrichtungen anerkannt. „Rehabilitationseinrichtungen“ heißen sie offiziell, und für die gibt es kaum Geld.

Die Konsequenz: Die Sozialbehörde muß einspringen. Dabei sind „viele der Wohngruppen auch Pflegeeinrichtungen“, betont Peter Gitschmann, Leiter der Abteilung Eingliederungshilfe in der Sozialbehörde. Um als solche anerkannt zu werden, müßten die Träger nur eine speziell ausgebildete Pflegerin pro Gruppe engagieren und ein passendes Konzept haben. Und sie müßten einen Antrag bei den Pflegekassen stellen.

Genau da aber hakt die Sache. „Wir wollen nicht, daß Einrichtungen ganz oder teilweise in Pflegestationen umgewandelt werden“, erklärt Gerlef Gleis vom Verein „Autonom leben“. Dann nämlich, argumentieren die Träger, müßten schwer pflegebedürftige Menschen in einer Wohngruppe zusammenleben; das Konzept gemischter WGs wäre hinfällig.

Zudem fürchten die Behindertenverbände, daß sie statt pädagogischem medizinisches Personal anheuern müßten. „Die Situation der Behinderten würde sich verschlechtern“, so Gleis – obwohl die Behörde versichert, das könne nicht passieren. „Wir wollen keine Einrichtung zwingen, neue Leute einzustellen oder umzubauen“, so Gitschmann. Auch für die rund 800 stark pflegebedürftigen Behinderten in Hamburg käme die Sache aufs gleiche raus – sie sollen genauso viel Geld kriegen wie bisher, nur eben von den Pflegekassen. Die sind nicht begeistern von der Idee.

„Die Behörde will sich nur von den Kosten entlasten“, glaubt Karen Walkenhorst vom Verband der Angestellten Krankenkassen. „Wenn der oberste Zweck einer Wohngruppe die ganzheitliche Betreuung von Behinderten ist, dann ist das keine Pflegeeinrichtung.“ Sollte die Behörde ihren Willen bekommen, fürchten die Kassen, werden „virtuelle Pflegebetten“ geschaffen, die nur einen Zweck haben: an ihr Geld zu kommen.