Mutanten, Killerviren, Mafiosi

„G.A.S.“ und „Boomtown Blues“: Matt Ruff und Thomas Kelly surfen in den Tunnelsystemen New Yorks, in Datennetzen der Zukunft und jenseits von Law and order  ■ Von Jürgen Berger

Vor sieben Jahren landete er mit seinem Erstling „Fool on the hill“ einen New Yorker Underground-Bestseller. An seinem zweiten Roman arbeitete er vier Jahre und schuf wieder etwas Bemerkenswertes: Das erste Popcomic-Epos des nächsten Jahrtausends. Matt Ruff, mit aristotelischer Logik und mit Chaostheorie gleichermaßen vertraut, hat sein Personal etwa nach der Hälfte des Romans vorgestellt und klargemacht, daß sich hinter den drei ominösen Buchstaben des Buchtitels „G.A.S.“ höchstwahrscheinlich New Yorks Stadtwerke verbergen, in deren labyrinthischen Abwasser-, Strom- und Gaskanälen mutierte Lebewesen wie der Killerhai „Meisterbrau“ ihr Unwesen treiben. Erst dann beginnt die eigentliche Handlung, und wir erfahren, „G.A.S.“ ist in Wirklichkeit der definitive Supercomputer des nächsten Jahrtausends.

„Yellow Submarine“ und „Krieg der Sterne“

Der hat seinen Konstrukteur, den ehedem von Walt Disney finanzierten Computertüftler John E. Hoover, ins Jenseits befördert und steigt seither zum Zwecke der Selbstvervollkommnung weltweit in alle Datenbänke ein. Der Computer will das Werk seines Konstrukteurs vollenden und mit einem Killervirus den definitiven Jahrtausendgenozid, die Eliminierung aller schwarzhäutigen Erdenbewohner, inszenieren. Sein Konstrukteur hatte das zwar schon einmal versucht, sparte damals allerdings die grünäugigen Schwarzen aus. Hoover hatte selbst grüne Augen und traute dem eigenen Killervirus wohl nicht unbedingt.

Das war im Jahre 2005, lange her. Anfang der 30er Jahre des 21. Jahrhunderts befinden wir uns mitten in Matt Ruffs Showdown in und um New Yorks definitiven Megawolkenkratzer. Der heißt Babel, ein Denkmal, das sich der definitive Milliardär des Romans, Harry Gant, bauen läßt. Grant ist ein überaus sympathischer Kapitalist und dereinst mit Joan Fine verheiratet, die als Öko-Aktivistin immer noch glaubt, das kapitalistische Prinzip des Profits um jeden Preis aushebeln zu können. Natürlich hat sie große Sympathie für Philo Dufresne, den Kapitän des technisch hochgerüsteten Öko- U-Boots Yabba-Dabba-Doo, das vor New York kreuzt und Ölbohrtürme mittels verrückter Tortenschlachten versenkt. Das ist der zweite Hauptstrang des Romans, den Ruff manchmal etwas aus den Augen verliert und von dem noch einiges berichtet werden könnte, wäre die Versuchung nicht zu groß, gleichzeitig auch mindestens 432 der ungefähr 783 Neben-, Unter- und Parallelgeschichten preiszugeben, die Ruff wie ein Zappmaniak in zum Teil ultrakurzen Erzählschnipseln einstreut.

Der 32jährige lutheranische Pfarrerssohn Ruff ist zwar ein begnadeter Autor, aalt sich aber allzusehr in ausufernden Phantasien; auf brillante Kurzszenen folgen Kaugummipassagen, packend- prägnante Dialoge wechseln ab mit endlosen dialogischen Nacherzählungen unzähliger Vorgeschichten. Als Film wäre „G.A.S.“ irgendwo zwischen „Yellow Submarine“, „Krieg der Sterne“ und „Terminator“ angesiedelt.

Der zweite große New-York- Roman des Jahres müßte dagegen als mehrteilige Mafia-, Gewerkschafts- und Familiensaga und auf jeden Fall von Francis Ford Coppola verfilmt werden. „Boomtown Blues“, Thomas Kellys Romandebut, spielt zum Teil auch in den Tunnelsystemen unterhalb New Yorks, endet ebenfalls in einem zerstörerischen Showdown und thematisiert wie „G.A.S.“ die Funktionsweise eines florierenden Kapitalismus. Während Ruff allerdings eine Anarchovariante durchspielt und trotz einiger Schwächen den schnellen Short-cut-Comic in Richtung eines philosophierenden Romans veredelt, erzählt der 35jährige Kelly derart schnörkellos und glatt, als habe er sein Leben lang Romane in sauber-traditionellem Stil geschrieben.

Kain und Abel aus der Bronx

Kelly kennt sein Sujet aus nächster Nähe. Er arbeitete in New Yorks Tunnelsystemen, bevor er politische Wissenschaften studierte und Gewerkschaftsberater wurde. Das muß in den 80er Jahren gewesen sein, als New Yorks Kriminalitätsrate noch eine der weltweit höchsten war und die Bauindustrie boomte. In dieser Zeit läßt Kelly auch seinen mit allen Ingredienzien des Genres gewürzten melancholischen Thriller spielen. Geboten wird alles, vom klassischen Bruderkonflikt bis hin zum Showdown, in dem sich die Mafia, eine irische Gang, Gewerkschaftskiller und ein Bau-Tycoon meucheln.

Bei Kelly geht es vom ersten Satz an zur Sache, als habe er bereits Set, Kameraeinstellungen und Besetzung der Romanverfilmung im Kopf gehabt: Ein Bauleiter wird verprügelt, auf daß Schutzgelder wieder fließen. Der da zuschlägt, ist der Kain des irischen Bruderpaares Adare und heißt Paddy. Ein Ex-Boxer, der sich kurz von den entscheidenden Kämpfen um Millionenbudgets die Hand brach und Mitglied der Iren- Gang wurde, die Manhattans Baugewerbe kontrolliert. Der in zarter Bruderliebe zu Paddy und auf dem Weg des Gerechten wandelnde Abel des Bruderpaares heißt Billy. Ein in der Bronx aufgewachsener Junge, der nach oben will, seine Zulassung zum Jurastudium in der Tasche hat und sich sein Geld bei New Yorks Sandhogs verdient, die U-Bahn-, Gas-, Strom- und Wasserstollen in eines der härtesten Gesteine des Planeten nagen. Was Billy nicht weiß: Er arbeitet für die Gesellschaft des Bau-Tycoons Harkness, der die gewerkschaftlich straff organisierten Sandhogs in die Knie zwingen will. Um vorzuführen, daß im Kräftespiel eines boomenden Kapitalismus die Gesetze der Logik außer Kraft gesetzt werden, geht Thomas Kelly zurück in ein noch nicht verbrechensberuhigtes Manhattan, während Matt Ruff durch ein künftiges New York surft, als sei er in einem chaotischen und verdreckten Datennetz unterwegs. Beide Stadtansichten dürften dem derzeitigen Law- and-order-Bürgermeister Giuliani nicht gefallen. Es ist kaum anzunehmen, daß er sich von Kelly an die 80er Jahre erinnern lassen will oder daß er Ruffs „Instruction Manual“ zur Hand nimmt.

Matt Ruff: „G.A.S. Die Trilogie der Stadtwerke.“ Roman. Deutsch von Giovanni und Ditte Bandini. Hanser Verlag, München 1998, 624 Seiten, 42 DM

Thomas Kelly: „Boomtown Blues“. Roman. Deutsch von Fred Kinzel. Limes Verlag, München 1998, 384 Seiten, 44 DM