Schmutzwert à gogo

Grenzbohrungen zwischen Nerv und Wurzel: Das zwölfte Fantasy Filmfest in Berlin. Sogar Sauberfrau Brooke Shields darf darin Hirn verspritzen  ■ Von Anatol Weber

Im alljährlichen Rummel der Filmfeste hat auch das Funhouse – das Gruselkabinett – wieder geöffnet. Zum zwölften Mal lockt das Fantasy Filmfest, das jetzt nach München in Berlin und Hamburg gestartet ist, mit seiner Mischung aus Science-fiction, Horror und Thriller, mit Surrealem, Irrealem und dem vielleicht Erschreckendsten, dem Realen. Zwischen Grenzüberschreitungen, Grenzverletzungen und grenzenlosem entsetzlichem Spaß gibt es unbegrenzte Möglichkeiten. Immer neue Räume betreten, so könnte das Motto lauten, und kein Film repräsentiert diese Vorgabe so gut wie „The Cube“. Gefangen in einer magischen Box, ohne zu wissen, wohin wir als nächstes gelangen und ob wir jemals irgendwo hinkommen, weist uns das Debüt von Vincenzo Natali zu Abgründen, die, wie in vielen der diesjährigen Filme, den Tod geradezu harmlos erscheinen lassen.

Rohdiamanten von höchstem Schmutzwert sind gut verstreut im Programm zu entdecken. „Freeway“, ebenfalls ein Erstling, mit der atemberaubenden Reese Whitherspoon ist die konsequent kranke Abrechnung mit einer verlogenen amerikanischen Moral, eine Tour de force, in der sogar US-Sauberfrau Brooke Shields ihr Hirn an der Wand verspritzt. In „Perdita Durango“ von Alex de Iglesias wäre fast ein neues Traumpaar geboren. Wie Rosie Perez und Javier Bardem in der ersten Hälfte des Films über sich und andere herfallen, ist atemberaubend, so sehr, daß selbst dem Regisseur am Ende die Puste ausgeht.

Ein ganz besonderes Vergnügen dagegen bedeutet das Wiedersehen mit „Blondie“ Debbie Harry in „Six Ways to Sunday“. Schlampig und dominant zugleich, weckt sie in dem ihr hörigen, verklemmten Sohn ungeahnte Kräfte, die nicht nur die örtliche Mafia zu spüren bekommt, sondern auch zu einem bizarren Happy-End führen. Ähnlich respektlos ist auch die herrlich überdrehte Hitmenfarce „Jerry and Tom“, die wie alle der genannten Filme für hervorragendes Schauspielerentertainment steht. Berühmte Genregrößen vereint der Horrorhöhepunkt „Wishmaster“. Robert Englund (Freddy Kruger), Toddy Todd (Candyman) und Kane Hoddler (Jason) treffen auf einen Djinn, der so ganz anders ist als die bezaubernde Jeannie, und so entspinnt sich ein blutiges Spektakel voller Gore- Einlagen, die diesem leider fast schon zu Grabe getragenen Genre zur Ehre gereichen. Natürlich dürfen unsere geliebten blutsaugenden Freunde nicht fehlen, und da lohnen besonders drei Filme den Vergleich.

John Carpenter versuchte wieder einmal ins Horrorgenre zurückzukehren, hat aber mit „Vampires“ schwer danebengebissen. Zu schön die Bilder, zu substanzlos die Story. Da Carpenter allerdings schon wesentlich schlechtere Filme vorgelegt hat, mögen es ihm die Fürsten der Dunkelheit verzeihen und mit viel Popcorn verdauen. Andererseits ist der Debütfilm des Neuberliners David Jazay „Kiss my Blood“ – mit Minibudget und viel Eigenblutentnahme produziert – eine sehenswerte und experimentierfreudige Beisetzung klassischer Vampirmythen voll von dilettantischem Charme.

Einer, der auszog, den Trash zu leben, ist Ulli Lommel. Einst einer der begehrtesten Mimen Deutschlands, beglückt er seit Jahren eine treue Gemeinde von L.A. mit Horror-, Söldner- und Abenteuerschund der schmerzlichen Art. „I want to be a Vampire“ ist sein neuester Streich und basiert auf einem US-Kultspiel. Vampirismus als Unterrichtsfach an einer Schule – auch der Besucher kann Platz nehmen und wählen, es ist angerichtet. Freunde des Übersinnlichen werden sich in den Beiträgen aus Spanien und Mexiko „99,9“ und „Sobrenatural“ wiederfinden, Filme von immenser suggestiver Faszination, deren Geschichte hinter den Bildern an Bedeutung verliert. Wie eng Irreales und Reales beieinanderliegen, zeigt die britische „Urban Ghost Story“, die zwar den Poltergeist beschwört, aber eher einem Sozialdrama von Ken Loach gleicht. Das große Fragezeichen des Festivals ist mit Sicherheit „Carnival Souls“, das Remake, die Fortsetzung, das unbeschreibliche Etwas, das dem gleichnamigen Klassiker des Horrors folgt. Ein Film, der das Genre wie kein anderer geprägt hat. Hier kann der Grusel in jede Richtung gehen. Zum vierten Mal schickt uns der Tall Man seine tödlichen Kugeln entgegen, und Regisseur Don Coscarelli wird ihn und sein Lebenswerk „Phantasm“ zum Festival begleiten. Dies wird vorerst allerdings die letzte lange Nacht auf dem Festival sein, und damit wird eine wunderbare Institution zu Grabe getragen: Video and TV killed the Movie Nights.

Nicht zu töten ist dagegen Corbin Bensen, alias Dr. Feinstone, der Mann, der die größten Schmerzen verspricht. „The Dentist 2“, die Fortsetzung der Bohrkomödie von Brian Yuzna, ist diesmal richtig böse und gemein, und beschert Grenzüberschreitung zwischen Nerv und Wurzel. Insgesamt gehen 79 Filme aus 17 Ländern an den Start. Die wenigsten davon werden jemals wieder auf der Leinwand erscheinen. Ein paar vielleicht demnächst auf Video, aber ein Festival ist immer ein Forum und somit auch zum Unerklärlichen fähig. Etwa dem Luxus einer Retrospektive, in der einer der großen Veteranen des klassischen, fantastischen Films das Festival besuchen wird: Jimmy Sangster, der als Autor und Regisseur Geschichte schrieb. „Blut für Dracula“ (1966), „Ein Toter spielt Klavier“ (1960), oder „Frankensteins Fluch“ (1957), mit Horrorstars wie Christopher Lee, Peter Cushing oder sogar Bette Davis, der Mann hat eine Menge zu erzählen. Wohlige Schauer sind garantiert, wenn er von der guten alten Zeit plaudern wird, in der ein Film zwei Pence kosten durfte, aber wie 100.000 Pfund aussehen mußte.

Würdig ist auch der Abschluß in diesem Jahr: „Dark City“ von Alex „The Crow“ Proyas steht für all das, was das Festival ausmacht: Science-fiction, Horror und Thriller. Verwirrend und fast kafkaesk, voll visueller Energie.