Hinter allem ein Ausrufezeichen

Aus der Enge des Elternhauses zu einsamer Größe: Mit Genuß inszeniert der grüne Fraktionschef Joschka Fischer seinen Lebenslauf als eine Quelle seines politischen Erfolgs  ■ Von Bettina Gaus

Fast alle am Tisch haben Mineralwasser bestellt, aber zunächst kommt nur eine große Flasche. Joschka Fischer läßt sie vor seinem Platz abstellen und bildet schützend mit seinen Armen einen Ring darum. „Ja, das überrascht die Kellner immer, daß ich allein eine ganze Flasche brauche.“ Einen Liter muß er im Rahmen seines Fitneßprogramms an diesem Abend noch trinken. Eigentlich könnte er die Flasche herumgehen lassen und die von ihm selbst konsumierte Menge mit Hilfe des Eichstrichs am Glas überprüfen. Aber Joschka Fischer tut nichts unauffällig. Er setzt sogar hinter den Genuß von Tafelwasser ein Ausrufezeichen.

Kein Anlaß ist dem Fraktionschef von Bündnis 90/Die Grünen zu gering für seine Liebe zum Drama. Fischer vertritt nicht nur die Sache, für die er gerade steht, sondern setzt sich gleichzeitig selbst in Szene. Ob er vor laufenden Kameras sein Elend als verlassener Ehemann zelebrierte und sich danach bis zum Marathonläufer hochjoggte, ob er sich auf sein erstes Ministeramt in Turnschuhen vereidigen ließ oder ob er den Bundestagspräsidenten im Parlament wohlüberlegt und „mit Verlaub“ als „Arschloch“ beschimpfte. Es ist kein Zufall, daß gerade Fischer das Bonmot von Helmut Kohl als einem „pfälzischem Gesamtkunstwerk“ geprägt hat. Es entspricht dem Menschenbild des 50jährigen, und durch den Spott schimmert Bewunderung.

Der Bundeskanzler verkörpert Macht und jenes Selbstbewußtsein, das sich aus der als selbstverständlich erfahrenen Zugehörigkeit zum gehobenen Bürgertum speist. Die Mehrheit der Deutschen mag glauben, wir alle lebten in einer Mittelstandsgesellschaft und deshalb die Frage nach der Herkunft für unbedeutend und überholt halten. Die wenigen, denen der Sprung über soziale Barrieren gelungen ist, glauben an diese Legende nicht. Wenn es nach den Wahlen zu einer rot-grünen Koalition kommen sollte, dann stünden an ihrer Spitze Gerhard Schröder, dessen Mutter für den Lebensunterhalt ihrer Kinder putzen gehen mußte, und Joschka Fischer, dessen Vater als Metzger gearbeitet hat. Aber das wäre kein später Sieg des Proletariats. Beide Politiker haben das Bürgertum schon seit langem umworben – und nicht nur deshalb, weil sie es für ein Gebot der politischen Klugheit halten.

Der Wunsch, zu denen zu gehören, die früher die „gehobenen Kreise“ genannt wurden, ist bei ehemaligen Linken weit verbreitet, ebenso wie bei vielen Rechten die Hoffnung, diese mögen am Ende bei Hofe doch nicht zugelassen werden. Das „feine Tuch“, das der Fraktionschef der Grünen seit einigen Jahren trägt, ist von erstaunlich vielen Politikern aus den Reihen der Regierungskoalition mit giftigen Spitzen belegt worden.

In der Öffentlichkeit sammeln Fischers Gegner damit keine Punkte. Er gehört zu den beliebtesten Volksvertretern der Republik. Historiker werden von ihm einmal sagen, er habe Deutschland am Ende des Jahrhunderts bestimmend mitgeprägt. Das hat vor ihm kein Politiker geschafft, ohne je einer Bundesregierung anzugehören. Wo er hinkommt, sind die Säle voll. Gelegentlich wird ihm gehuldigt wie einem Popstar. Selbst ein bayerischer Polizist bittet den einstigen Bürgerschreck um ein Autogramm. Der weiß nicht recht, ob er geschmeichelt reagieren oder ob es ihm ein bißchen peinlich sein soll. „Die Zeiten ändern sich“, ringt er sich schließlich mit leicht gequältem Lächeln ab.

In einem Land, das von einem mausgrauen Heer der Bürokraten und der Technokraten regiert wird, reicht schon eine Biographie für Glamour, die ein kleines bißchen aus dem Rahmen fällt. Der Lebensweg des jugendlichen Ausreißers, Schulabbrechers, Taxifahrers und möglichen Außenministers fällt ziemlich aus dem Rahmen, und nun gleicht er vom äußeren Erscheinungsbild her auch noch denen, die seine Umwege nicht gegangen sind. Das ist Balsam für viele Seelen, zumal Fischer seine Wandlung gern als Reifungsprozeß darstellt. Wer nie von der Revolution geträumt hat, sieht sich bestätigt. Wer die Grünen nicht wählen mag, sich aber selbst als kritischen, unabhängigen Geist sehen möchte, lobt heute deren Fraktionschef gerne.

Er sei ja ganz vernünftig, aber seine Partei hindere ihn eben an der Umsetzung seiner Politik: Das ist die gängige Formel. „Was hält Sie denn noch bei den Grünen?“ fragt ein Lokaljournalist in der Oberpfalz den Wahlkämpfer ratlos. „Das ist meine Partei. Da bin ich zu Hause, und dafür kämpfe ich.“ Der Journalist schaut verständnislos drein, Fischer gereizt. Die Frage ist ihm für seinen Geschmack schon viel zu oft gestellt worden. Warum sucht er die Schuld dafür immer bei den anderen?

Dabei hat Fischer Überzeugungen, die er sich nicht abhandeln läßt, und er ist auch keineswegs in der falschen Partei. Umweltschutz ist ihm ein wirkliches Anliegen, auch soziale Gerechtigkeit und der Schutz von Minderheiten. „Wenn es um den Kampf gegen Ausländerfeindlichkeit ging, dann hat man auf ihn immer zählen können“, sagt eine Parteifreundin, die ihm in manch anderen Fragen kritisch gegenübersteht.

Zum Liebling der Medien ist er aus anderen Gründen geworden. Noch immer wird Joschka Fischer regelmäßig zu Talkshows eingeladen, in denen er für die Rolle des lockeren Dampfplauderers vorgesehen ist. Legenden sind zählebig. Er hat den Ruf des ungebärdigen, aber vergnüglichen Bruder Lustig behalten. Dabei erzielt er seine Lacher längst nicht mehr mit unbefangener Fröhlichkeit, sondern mit grimmigem Sarkasmus. Darin ist er dem langjährigen SPD-Fraktionschef Herbert Wehner nicht unähnlich. Auch der hat seine Scherze gern auf Kosten anderer gemacht und nur selten selber mitgelacht. Wehner wurde bereits in einem Lebensalter „Onkel“ genannt, in dem andere glauben, ihre Karriere habe gerade erst begonnen.

Auch Joschka Fischer sieht älter aus als seine Jahre. Wer hat diesen Politiker in den letzten Jahren einmal lauthals lachen sehen? Allenfalls lächelt er. Wenn Fischer richtig gut gelaunt ist, dann kann er kichern. Er gluckst in sich hinein und wirkt dabei verblüfft, fast so, als sei er überrascht, daß ein Gefühl in ihm steckt, das solche Laute erzeugen kann. In diesen Augenblicken ist er unwiderstehlich.

Weit öfter aber ist er demonstrativ unhöflich. Will er sehen, wie weit er gehen kann? Im Bundestagsrestaurant zieht er sich einen Stuhl an den Tisch, ohne auch nur zu fragen, ob er stört – ganz so, als könne seine Anwesenheit nur lauteres Glück hervorrufen. Journalisten, die er in seine Wohnung zum Interview gebeten hat, läßt er warten, bis er sich selbst einen Kaffee geholt hat. Den Besuchern wird nichts angeboten. Ein Kellner, der sich mit dem Brot ein wenig Zeit läßt, muß Fischers lautstarken Ärger über sich ergehen lassen.

Was Joschka Fischer für sich als richtig erkannt hat, das muß für alle gelten. Gegenwärtig spielt der Umgang mit dem eigenen Körper in seinem Leben eine wichtige Rolle. So kommentiert er denn auch Eßgewohnheiten anderer im größeren Kreis. Abfällige Bemerkungen über eine ihm mißfallende Figur äußert er selbst gegenüber relativ Fremden. Er kommt damit durch, und er setzt sich durch.

Die Konsequenz, mit der er die eigenen Normen zum allgemein gültigen Maßstab erhebt, ist sonst nur bei Angehörigen der Nachkriegsgeneration zu beobachten, die eine Stunde Null erfahren haben. Joschka Fischer hat keinen kollektiven Neuanfang erlebt. Seine Premieren fanden stets für ihn ganz allein statt. Er sagt, es sei schwer gewesen, „aus dieser Enge“ des Elternhauses herauszukommen. Einer, der von unten kommt und nach oben will, muß daran glauben, daß er sich von kindlicher Prägung befreien und zu völlig selbstbestimmten, eigenen Erkenntnissen gelangen kann. Das setzt die Überzeugung voraus, es gebe so etwas wie eine absolute Wahrheit und einen absoluten Irrtum.

Ein großer Teil der schwierigen Beziehung des Fraktionschefs zu seiner eigenen Partei erklärt sich aus dieser Haltung. Für politische Gegner kann sich Fischer interessieren, er kann ihnen zuhören und sogar Respekt zollen. Wer hingegen auf der prinzipiell gleichen Seite steht wie er, aber seine Entwicklungen nicht nachvollzieht, der ist in seinen Augen ideologisch verblendet oder mindestens nicht auf der Höhe der Zeit. Fischer war nicht der erste prominente Grüne, der für eine Beteiligung der Bundeswehr an einem Militäreinsatz in Bosnien eingetreten ist. Aber als er sich dann zu seiner neuen Haltung durchgerungen hatte, vertrat er sie ohne Selbstzweifel. Daß diese Position, wenn auch mit Einschränkungen, inzwischen in seiner Partei mehrheitsfähig ist, liegt nicht zuletzt an der großen rhetorischen Begabung des Fraktionsvorsitzenden.

Joschka Fischer kann in Hinterzimmern ebenso wie auf Marktplätzen in Menschen das Gefühl erzeugen, er sei auf sie ganz persönlich als Verbündete angewiesen. Dabei hat er keine Scheu vor Pathos. Zu Grundüberzeugungen müsse „man stehen, und wenn es den Kopf kostet“, sagt er gerne. Nun kostet derlei hierzulande nicht den Kopf. Aber es klingt gut, und erzeugt bei den Zuhörern den wohligen Schauer von Bekennermut. Die Distanz zum Publikum, gegen die andere Politiker oft vergeblich anzureden versuchen, scheint Fischer ganz mühelos überbrücken zu können.

Gelingt ihm das, weil zwischen ihm und anderen ohnehin stets ein großer Abstand herrscht, so daß der Unterschied zwischen anonymem und ihm bekanntem Publikum gar nicht so recht ins Gewicht fällt? Einsamkeit ist ein Wort, das in Gesprächen über Fischer immer wieder fällt. Mit wem kommuniziert Joschka Fischer auf Augenhöhe? Welche seiner regelmäßigen Gesprächspartner stehen zu ihm nicht in einem wie immer gearteten Abhängigkeitsverhältnis?

Bekannt sind seine dauerhaften Beziehungen zu alten Freunden aus Frankfurter Sponti-Tagen. Aber diese Tage liegen weit zurück, und Weggefährten von einst wie Daniel Cohn-Bendit oder Tom Koenigs führen heute selbst ein hektisches, ausgefülltes Leben. Von wem läßt sich Joschka Fischer Kritik gefallen? Er selbst tut nichts, um dem Eindruck einsamer Größe entgegenzuwirken. The lonesome hero – es gibt schlechtere Überschriften über eine Existenz. Aber für einen Politiker vielleicht doch nur auf den ersten Blick.