Ein provokanter Mullah

Irans Präsident Mohammad Chatami trat vor einem Jahr sein Amt an. Fast übervorsichtig führt er sein Land aus der Isolation – stets in Gefahr, von der konservativen Geistlichkeit des Landes zur Unperson erklärt zu werden. Ein Portrait  ■ Von Thomas Dreger

Wann immer Mohammad Chatami öffentlich auftritt, setzt er einen Gesichtsausdruck auf, der Weisheit und Freundlichkeit zugleich ausstrahlt und doch nicht süffisant wirkt. Viele – vor allem junge – Iraner deuten diese Geste als die eines Hoffnungsträgers im tristen Alltag der Islamischen Republik. Auf die konservative Geistlichkeit wirkt sein Lächeln dementsprechend provokant. Oppositionelle – vor allem im Exil – empfinden seine Freundlichkeit als Indiz für Heuchelei. Der iranische Präsident gilt ihnen als Feigenblatt der Theokratie.

Seit einem Jahr ist Irans Präsident im Amt. Trotzdem rätseln Iraner und ausländische Beobachter über den Charakter und das politische Profil des Mullahs mit dem schwarzen Turban, der ihn als Nachkomme des Religionsstifters Muhammad auszeichnet. Gesprächspartner aus dem Westen, die Chatami gegenübersitzen, registrieren an ihm elegante schwarze Lederschuhe und Designerbrille – als erwarteten sie von der schiitischen Geistlichkeit ein lumpiges Outfit. Iraner interessieren sich mehr dafür, inwieweit er seine Wahlkampfversprechen einhalten kann. Die lassen sich in einem Satz zusammenfassen: Ein bißchen mehr Freiheit.

Chatami sei jemand, „der mit beiden Beinen in der iranischen Geschichte steht, aber dennoch weit über deren Grenzen hinausdenkt“, sagt der in Deutschland lebende Exiliraner und Altachtundsechziger Bahman Nirumand. In der Tat ist Chatami einerseits ein schiitischer Theokrat mit dem Rang eines Hodschatolislam (“Beweis Gottes auf Erden“), andererseits studierter Philosoph und weltläufiger Pädagoge. Im Iran geht seine Politik den meisten Konservativen viel zu weit, Exiliranern geht er nicht weit genug.

Ein Balanceakt für Chatami. Er war ein Schüler und enger Vertrauter des Revolutionsführers Chomeini, der nach der Machtergreifung 1979 zum Despoten wurde. Heute versucht Chatami einige der Gräben zu überwinden, die sein politischer Lehrer einst aushob.

Diese Mittlerrolle führt dazu, daß ein und dasselbe Schriftstück Chatamis höchst unterschiedlich gedeutet wird. Wie etwa ein Aufsatz, kürzlich erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Einige Rezensenten erkannten darin eine „Abschiedspredigt auf den Gottesstaat“, Exiliraner dagegen werteten ihn als Versuch, genau diesen – nämlich die real existierende Islamische Republik – zu retten. Beide Seiten haben auf ihre Weise recht.

Tradition sei „veränderbar und weder ewig noch heilig“, schreibt Chatami. Weiter heißt es: „Eine Tradition aufrechtzuerhalten, deren Zeit abgelaufen ist, bedeutet, der Existenz und der Seele des Menschen einen engen Rahmen aufzuzwingen.“ Wer will, kann das als Beschreibung der iranischen Verhältnisse lesen, den „engen Rahmen“ als eine Art Gefängnis interpretieren. Chatami geht aber weiter. Er greift die religiösen Fundamente seiner Republik an: „Wenn die begrenzten menschlichen Traditionen und Wahrnehmungen den Platz des Erhabenen und Heiligen einnehmen, wird jedwede Kritik an ihnen als ketzerische Neuerung wahrgenommen, und der Kampf gegen ketzerische Neuerungen gilt wiederum als erhaben und heilig.“

Treffender kann man den heutigen Iran kaum skizzieren. Chatami – ein Verehrer der Französischen Revolution – sucht den Anschluß seines Landes an die Moderne. „Wir sollten akzeptieren, daß der Widerspruch zwischen der modernen und unserer traditionellen Kultur einer der wichtigsten Gründe für die Krise unseres Denkens und unseres Lebens ist“, schreibt er und sucht einen ehrenhaften Ausweg aus der von Chomeini verordneten internationalen Isolation Irans.

Der in der den Schiiten heiligen Stadt Qom und in Isfahan studierte Kleriker wurde 1943 als Sohn eines Ajatollahs in der Wüstenprovinz Jasd geboren. Während des Studiums schloß sich Chatami den religiösen Gegnern des Schahregimes an. Sein engster Verbündeter wurde Ahmad Chomeini, der verstorbene Sohn des späteren Revolutionsführers. 1978 ging Chatami als Leiter des Islamischen Zentrums Hamburg nach Deutschland. Der heutige Präsident spricht neben Persisch und Arabisch auch passabel Englisch und Deutsch. Abendländische Philosophen, Hobbes, Hegel und Marx, hatte Chatami bereits während des Studiums im Iran kennengelernt. In Aufsätzen beruft er sich gern auf Plato und Aristoteles. „Kein Intellektueller, der Philosophie und Politik studiert, kann sich diesen zwei Quellen verschließen“, schrieb Chatami einst über die zwei antiken Griechen.

„Von seinem ersten Tag in Hamburg an war klar, daß da eine sehr starke Persönlichkeit gekommen war“, erinnert sich ein Kommilitone aus Hamburger Tagen. Chatami sei „immer bereit zu Gesprächen“ gewesen und habe „viel für die islamische Bewußtseinsbildung getan“. Und: „Er setzte auf Wissen und Erkenntnis.“

Nach der Revolution im Jahr 1979 holte Chomeini Chatami zurück in den Iran. Der damals 36jährige war ein glühender Revolutionär, trat für die Entrechteten ein – jene Hisbollahi (“Anhänger der Partei Gottes“) aus den verslumten Vorstädten Teherans, die damals die wichtigsten Anhänger Chomeinis bildeten.

„Linksislamisten“ werden heute diese Unterstützer Chomeinis genannt, die wie Chatami neben der Religion einen sozialrevolutionären Ansatz verfolgten. Doch der hatte fatale Folgen: Säuberungen unter mißliebigen Revolutionären, die Bombardierung von aufständischen Kurden, die Besetzung der US-amerikanischen Botschaft. Was von Chatami unkritisiert blieb.

Während des irakisch-iranischen Krieges übernahm Chatami den Job des „Kulturbeauftragten des Kommandozentrums der Streitkräfte“. Die Institution zeichnete verantwortlich für Fernsehsendungen, in denen Vierzehnjährige heroisiert wurden, die sich, mit Handgranaten bewaffnet, unter irakische Panzer warfen. Die Kunst müsse ganz im Dienst des Kampfes stehen, soll Chatami damals gesagt haben.

Von 1982 bis 1992 war er als Minister für religiöse Führung und Kultur eine Art nationaler Kulturchef. Im Iran gebliebene Intellektuelle bezeichnen seine Amtszeit als „Teheraner Frühling“, Exilanten bewerteten sie als Beweis für Chatamis Zugehörigkeit zum religiösen Establishment. Bei der Eröffnung eines iranischen Kulturfestivals sagte Chatami damals in Düsseldorf: „Das richtige Hinhören bedarf der Bescheidenheit“ und empfahl seinem westlichen Auditorium, sich mit der orientalischen Kultur auseinanderzusetzen.

Ungezählt blieb bis heute, wie viele Zeitungen unter Chatami neu zugelassen wurden, ebenso, wie oft es unter seiner Ägide Repressionsversuche gegen Andersdenkende gab. Als Lichtblick gilt die von Chatami veranlaßte Wiederzulassung der Zeitschrift Gardun (“Himmelsgewölbe“).

Die Wiederzulassung dieses Magazins – das im übrigen 1996 neuerlich verboten und dessen Herausgeber, Abbas Maarufi, zu 35 Peitschenhieben und sechs Monaten Gefängnis verurteilt wurde – war eine der letzten Amtshandlungen Chatamis als Kulturminister. Seine konservativen Gegner kreideten ihm dies als allzu „liberale“ Politik an. Entnervt und blockiert zog sich Chatami 1992 auf den Sessel des Direktors der Teheraner Nationalbibliothek zurück. Vor allem im Ausland wird ihm dieser Schritt im nachhinein als Schwäche ausgelegt – und als Indiz dafür, daß er auch sein Präsidentenamt nicht durchhalten wird.

In seiner Zeit in der Nationalbibliothek sei Chatami „gereift“, räumen heute aber selbst Kritiker ein, Irans heutiger Präsident habe sich „geistig gefestigt“. Der Vielleser Chatami beschäftigte sich weiter mit seinem Lieblingsthema: dem Werden des Individuums. Damals fiel vor allem auf, daß er ungewöhnliche politische Bande zu knüpfen begann. Der Linksislamist verbündete sich mit den Wirtschaftsliberalen um den damaligen Präsidenten Ali Akbar Haschemi Rafsandschani – also gegen die konservativen Kleriker unter Vorsitz des Chomeini-Nachfolgers und Religiösen Führer des Landes, Ali Akbar Chamenei.

Für diese Allianz, die in kein westliches Rechts-Links-Muster passen will, wurde Chatami der Abkehr von seinen früheren Idealen gescholten. Ein realpolitischer Winkelzug. Das mächtige Bündnis ermöglichte erst den überraschenden Wahlsieg Chatamis im Mai vorigen Jahres.

Etwa siebzig Prozent der Wahlberechtigten votierten im Mai 1997 für den Reformkandidaten. Nach Bekanntwerden des Resultats tanzten Menschen im Iran auf den Straßen. In vielen Zimmern Jugendlicher hängt seither sein Plakat neben denen von US-Rockbands: ein Präsident als Popstar. Kurz darauf erklärte Chatami einer Reporterin des US-Fernsehsenders CNN sogar: „Wir lieben alle Menschen der Welt, und wir wollen, daß sie uns ebenso lieben.“ Damit deutete er eine Kehrtwende in den eingefrorenen amerikanisch-iranischen Beziehungen an.

Doch ist „Love and Peace“ als politisches Programm genug? Chatami räumt freimütig ein, von Wirtschaft wenig zu verstehen. Eine schlechte Voraussetzung für eine erfolgreiche Regentschaft, zumal die Ökonomie des Iran immer schlechtere Bilanzen verzeichnet. Die Stimmung unter seinen ehemaligen WählerInnen ist zunehmend resigniert. Zwar gehen immer noch Tausende für Chatami auf die Straße. Aber ihm nahestehende neugegründete Zeitungen werden wieder verboten, Redakteure von Schlägertrupps verprügelt. Eine Frau als Ministerin in seinem Kabinett konnte er nicht durchsetzen.

Die Konservativen machen Chatamis politischen Verbündeten das Leben schwer – stellvertretend für Kritik am Präsidenten selbst. Teherans Bürgermeister, Chatamis wichtigster Wahlkampfhelfer, unterlag gerade in einem politischen Prozeß wegen angeblicher Korruption. Sein Innenminister wurde wegen zu ausgeprägter Reformfreude von der konservativen Parlamentsmehrheit abgesägt.

Mittlerweile haben sich Chatamis Gegner auf dessen Kulturminister eingeschossen – auf den Träger jenes Amtes, das der Präsident vor sechs Jahren aufgab. Der sei zu „liberal“. Das Adjektiv ist Irans Konservativen ein Schimpfwort, wie gehabt.

Zur Unperson können die Traditionalisten den Präsidenten dennoch nicht erklären. Der lächelnde Mullah, der als Hobbies Schwimmen und Tischtennis angibt, ist fest im System des heutigen Iran verhaftet. Nach westlichen Kriterien ist Chatami so etwas wie ein Konservativer mit Visionen. Sein Privatleben organisiert er, wie die Tradition es verlangt. „Mein Vater ist zu ihm gegangen und hat mit ihm gesprochen“, berichtet seine Frau Schoreh Sadeghi (48) einer US-amerikanischen Journalistin, „wir haben uns nur einmal getroffen, bevor wir 1974 geheiratet haben. Es war Liebe auf den ersten Blick.“ Als progressiv wird ausgelegt, daß Chatami sich in Interviews darüber beklagt, daß seine Frau keinen Führerschein hat.

Eine grundsätzliche Veränderung des politischen und gesellschaftlichen Systems im Iran steht von Chatami indes nicht zu erwarten. Die Widerstände sind zu groß – zu stark auch seine Verbundenheit mit der Islamischen Revolution. Wohl aber könnte Chatami eine gesellschaftliche Entwicklung in Bewegung gesetzt haben, die ihre eigene, kaum kalkulierbare Dynamik entwickelt. Seine Wahl könnte eine Bewegung ausgelöst haben, die für einen Wechsel im Iran entscheidend ist, ihren Initiator aber auf der Strecke läßt.

Zum Amtsantritt hieß man ihn einen „iranischen Gorbatschow“. Das Original ist mittlerweile eine tragische Figur. Familienangehörige rieten Chatami davon ab, Präsident zu werden. „Ich war damit nicht einverstanden“, bekräftigt Tochter Leila, „ich wollte nicht, daß mein Vater der Vater der Nation wird.“ Und Väter sterben zumeist vor ihren Kindern.