„Der Ho-ho-ho-Faktor“

■ Einführung in den Lokaljournalismus / 6. Lektion: Die ersten Käufer sind KollegInnen

Dank Ihres erfolgreichen Studiums der ersten fünf Folgen unserer kleinen Schule dürfen Sie sich schon bald Lokaljournalist nennen. Doch schon baut sich vor Ihnen eine neue, scheinbar kaum zu überspringende Hürde auf: Bevor Sie Ihr Thema in die Zeitung setzen können, müssen Sie Ihre KollegInnen überzeugen. Dabei hilft die Kenntnis des „Ho-ho-“ oder des „Ho-ho-ho-Faktors“.

Wieder einmal haben Sie die richtige Spürnase gehabt und sind auf eine Pulitzer-Preis-verdächtige Geschichte gestoßen. In einem alten Bunker in Bremen/Fähr-Lobbendorf haben spielende Kinder einen eigenartig kostümierten Mann gesehen. Er betrat einen Nebenraum, ein blaues Licht leuchtete auf, und der Mann verschwand plötzlich – „er war wie vom Erdboden verschluckt“, erzählten Ihnen die Kinder. Nach einer Vor-Ort-Recherche (V-O-R) und einem Hintergrundgespräch (H-G) mit dem berühmten Bremer Physiker Stefan W. Horking besteht für Sie kein Zweifel: Sie haben den Time-Tunnel entdeckt. Jetzt müssen Sie das nur noch ins Blatt bringen.

Der Fortgang der Geschichte, erste Variante: Sie kommen aufgeregt in die Redaktionskonferenz. Noch vor der Blattkritik fallen Sie der ChefredakteurIn und Ihren KollegInnen ins Wort und rufen: „Ich-ich-ich-ich habe da eine sensationelle Geschichte. Ich-ich-ich bekomme dafür bestimmt den Pulitzer-Preis. Ich-ich-ich habe den Time-Tunnel entdeckt, und ich-ich-ich ...“ Noch während Sie reden, merken Sie: Es läuft etwas schief. Niemand reagiert mit dem anerkennenden Ruf „Ho“ oder „Ho-ho!“ oder „HO-HO-HO!“ Statt dessen hören Sie nur: „Ja und?“ Oder: „Haste's mal ausprobiert.“ Oder: „Scheiß Science-Fiction!“ Schließlich geben Sie klein bei und können gar nicht anders. Die ChefredakteurIn fährt mit der Blattkritik fort. Eine spontane Depression überfällt Sie, und Sie gelten ab sofort als akut selbstmordgefährdet. Und als dann am nächsten Montag der „Focus“ mit Ihrer Geschichte aufmacht ... HALT! Nicht springen! Lesen Sie ...

Der Fortgang der Geschichte, zweite Variante: Sie kommen aufgeregt in die Redaktionskonferenz. Nur mit Mühe und schnaufend vor Ungeduld hören Sie die Blattkritik der ChefredakteurIn zu Ende an. Gleich zu Beginn des freien Sprechens über Themen kennen Sie keine Freunde mehr und rufen: „Ich-ich-ich-ich habe da eine sensationelle Geschichte. Ich-ich-ich bekomme dafür bestimmt den Pulitzer-Preis. Ich-ich-ich muß unbedingt den Aufmacher-, Kommentar- und Aufsetzer-Platz haben. Ich-ich-ich habe den Time-Tunnel entdeckt, und ich-ich-ich ...“ Sie heben dabei Ihre Stimme an, werden lauter, drängender, fordernder. Natürlich fühlt sich einer Ihrer Kollegen überfahren, weil auch Er-er-er eine sensationelle Geschichte recherchiert hat (Der Entdecker des neuen Grippe-Virus ist Bremer!). Sie wissen, Sie können sich auf Ihre Verbündeten in der Redaktion verlassen. Die kommentieren Ihre Erzählung mit „Ho-ho“- und „Ho-ho-ho“-Rufen, und zumindest Aufmacher- und Kommentarplatz sind Ihnen sicher. Noch erfolgreicher ist aber ...

Der Fortgang der Geschichte, die letzte, die Diplomaten-Variante: Gut gelaunt und cool wie immer kommen Sie in die Redak-tionskonferenz. Sie warten geduldig, bis die ChefIn mit der Blattkritik fertig ist und das freie Sprechen über Themen beginnt. Sie lassen zunächst zwei KollegInnen von ihren minderwertigen und stinklangweiligen Kneipengesprächen berichten. Erst danach sagen Sie ganz leise und beiläufig: „Na ja, ich hab da vielleicht was.“ Und nach einer Pause fahren Sie immer noch beiläufig fort: „Zwei kleine Kinder haben den Time-Tunnel entdeckt.“ Sie hören: „Den was?“ „Den Time-Tunnel!“ „Ho?“ „Ho-ho!“ Sie beteiligen sich wieder: „Horking sagt, das ist 'ne Sensation.“ „Was, eine Sensation!?“ „Ho-ho-ho“ „Ho-ho-ho-ho!“ Und der Aufmacher, der Aufsetzer und der Kommentar sind Ihnen sicher.

Die Hausaufgabe: Entdecken Sie sich selbst. Stellen Sie sich auf die Weserbrücke und preisen Sie laut schreiend eine Geschichte an. Dann versuchen Sie durch leises Flüstern in der ausverkauften Bremer Stadthalle die Aufmerksamkeit von Publikum und Band auf sich lenken. Und schon bald sind Sie dem Olymp der Lokaljournalisten einen Schritt näher. ck

Die nächste Folge klärt Sie darüber auf, was ein „Freier“ ist