Herr, erbarme Dich!

Im Wald von Grabarka trifft sich im August die polnische orthodoxe Kirche zur alljährlichen Feier. Sammeln für Serbien, Gesänge, Gebete und die Hoffnung auf die Erlösung von irdischer Pein. Eine Pilgerfahrt ins hinterste Polen zu einer kleinen frommen Minderheit  ■ Von Henk Raijer

Die hohen Stimmen betören, machen neugierig. Wie verzaubert ziehen Hunderte Frauen, Männer und Kinder immer tiefer in den Wald. Der Nebel des frühen Sommerabends legt sich wie eine Daunendecke über feuchtgrünen Farn. Hier und da zwischen den Kiefern glitzert ein Kreuz im metallenen Gold der Sonne. Hoch oben auf dem Berg beginnt die Messe – zuweilen vereinen sich die Gesänge der Frauen mit dem summenden Timbre des Metropoliten zu einem monotonen „Gospodin pomiluj“, Herr, erbarme Dich.

Im Wald von Grabarka, dem wichtigsten Wallfahrtsort der polnischen Orthodoxie, bahnen sich kurz vor der Dämmerung die Pilger ihren Weg durch die Gasse, die ihnen Händler aus dem nahen Bialystok, aber auch aus Weißrußland und der Ukraine gelassen haben. Am Fuße des „Święta Góra“, des Heiligen Berges, schmücken Tausende weißer Tücher die Ufer des winzigen Baches, der den Pilgern das Ziel ihrer Wallfahrt bedeutet. Manch eine, die gerade die wacklige Holzbrücke passiert hat, zückt ihr Taschentuch, kniet an der Quelle und näßt es in dem klaren Wasser. Anschließend tupft sie sich mehrmals die Stirn oder ein anderes Körperteil und drapiert das triefende Textil auf noch unbesetztes Grün am Fluß.

Gemeinsam ist allen, die am 18. August in Grabarka eintreffen, die Hoffnung, der Herr möge sie von irdischer Pein befreien: indem sie jene Körperteile mit geweihtem Wasser besprenkeln, von denen sie glauben, eine schlimme Krankheit habe sich ihrer bemächtigt. Am Morgen des 19., jenes Feiertags, an dem die Orthodoxen der Verklärung Christi gedenken – der Offenbarung der messianischen Würde Jesu auf dem Berg Tabor –, werden dann die Mönche vom Berg herunterkommen und die Tücher verbrennen in einem alles Böse bannenden Ritual.

Die Familie der 51jährigen Nadzieja Kondrusik aus Bialystok zieht es jedes Jahr hierher: die Mutter (76) aus religiöser Überzeugung, sie selbst „aus Tradition“, ihre 30jährige Tochter Anita, Betriebswirtin in Warschau, weil sie, wie sie sagt, „die Gesänge so gerne mag. Ich identifiziere mich nicht so sehr mit dem Glauben, mich fasziniert aber die hypnotisierende Zeremonie in der Nacht.“

An die 12.000 Orthodoxe gibt es im heutigen Polen. Der Schrein auf dem Berg von Grabarka wurde nach dem Zweiten Weltkrieg fast zwangsläufig zum religiösen Zentrum, weil große Teile Ostpolens, dem Abkommen von Jalta gemäß, der UdSSR zugeschlagen wurden. „Viele Kirchen und Klöster befanden sich plötzlich jenseits der neuen Grenze“, erzählt Nadzieja Kondrusik, „andere, auf unserer Seite, hat man in römisch-katholische Kirchen, einige auch in Sanatorien umgewandelt. Die Besitztümer der Kirche gelangten in die Hände von landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften.“

Unzählige Kerzen und der Mond sorgen inzwischen für das Licht auf dem Berg Grabarka. Tausende säumen die Hänge – manch Erwachsener mit dem Doppelkreuz unterm Arm, Kinder mit weißen Kerzen in der Hand. Immer wieder stimmen Neuankömmlinge in die Gesänge und Gebete ein, die von Lautsprechern in den dunklen Wald hineingetragen werden. Bis Mitternacht wird der Toten gedacht, danach beginnt die eigentliche Liturgie, derentwegen alljährlich Zehntausende auch aus den östlichen Nachbarländern nach Grabarka pilgern.

Familien suchen im windverdrängten Licht der Kerzen nach einem Platz für ihr selbstgeschitztes Kreuz; auf dem Heiligen Berg, unter dem Dach ungezählter Kiefern, Buchen und Birken, ist die Erde übersät mit Kreuzen. Manche mögen Jahrhunderte dort stehen: weißgrau und porös, vom Wechsel der Gezeiten angefressen.

Vor dem eigentlichen Höhepunkt der Feier, der Kommunion am nächsten Morgen, wird gebeichtet: kollektiv oder individuell, in der mit Gold und Ikonen geschmückten Kirche oder im Freien. Nur wenige Handbreit vom Devotionalienstand entfernt hat man aus einer Kiste und mit Ornamenten verzierten Stoffen einen Altar hergerichtet. Knapp zwanzig Gläubige stehen Schlange in der Dunkelheit, manche beten, andere plaudern zwanglos, während der Priester sie nach und nach heranwinkt. Eine kleine Person von kräftiger Statur ist an der Reihe. Die Frau verneigt sich demutsvoll vor der Ikone auf der Empore. Der Priester deckt beide, Jesus und Gläubige, mit einem grünen Tuch zu, beugt sich über den geduckten Leib und murmelt sein „Gospodin pomiluj“.

Ein Viertel Mond steigt über den Heiligen Berg. Von der Kirche weht ein Gemisch aus Weihrauch und verbrannter Kiefer herüber. Zu keinem Zeitpunkt stocken die A-cappella-Gesänge der Frauen aus dem Innern des filigranen Holzbaus. Kurz vor Mitternacht drängen von allen Seiten kleine Prozessionen durch den Wald in Richtung Kirche. Menschentrauben hängen sich an die Stola jeweils eines Priesters, der im Gehen Fetzen der „richtigen Lehre“ von einem Zettelchen abliest. Zwei ältere Frauen in schwarzem Tuch leuchten ihm mit ihren Fackeln.

Im Gefolge des Popen verkaufen junge Mädchen Kerzen für einen Zloty, Novizen in weiß-grauer Tracht formieren sich zur Kollekte. Grabarka braucht Geld: Geld für den gerade beendeten Neubau der Kirche, Geld für die Erhaltung der Ikonen, Geld auch für Serbien. Als Argumentationshilfe für die Unterstützung des ebenfalls orthodoxen Balkanvolkes werden Farbaufnahmen von den Zerstörungen in Bosnien-Herzegowina herumgereicht, die Botschaft an alle: „Serbien braucht jetzt Ihre Hilfe – Gospodin pomiluj.“

Von der sich wiederholenden Dominante der Gesänge und Gebete geht etwas Hypnotisches aus: Der eine oder andere junge Mann steht mit verklärtem Blick an einen Stamm gelehnt, Mädchen in formlosen Gewändern gehen mit überbordendem Eifer den Nonnen zur Hand. „Ich komme schon seit meiner Kindheit hierher“, erzählt Dorota.

Eine grandiose Steigerung erfährt die besinnliche Stimmung in dem Moment, wo der Warschauer Metropolit durch das Kirchenportal tritt. Die Kultsprache, derer sich der Oberhirte bedient, können nur einige der Älteren verstehen. Auf Kirchenslawisch fordert der kleine Mann in seiner ausladenden Stola die Gläubigen auf, sich den Herausforderungen der neuen Zeit zu stellen. „Unser Haus fiel 1990 der Feuersbrunst zum Opfer, wir müssen beten, daß wir so stark sind wie dieser Ort wahren Glaubens“, sagt er. Die neue Kirche symbolisiere die Wiederauferstehung. „Gospodin pomiluj“.