Es wird eng auf der Couch in China

Psychische Probleme wurden in China einst mit „revolutionärer Umerziehung“ behandelt, doch heute fassen Psychologie und Psychotherapie nur langsam Fuß  ■ Aus Peking Stephanie Küch

Eine steile Treppe führt in den finsteren Keller, es geht durch dunkle Gänge mit schweren Eisentüren, schließlich ein fensterloser kleiner Raum mit Sofa, Tisch und zwei Stühlen – kein Mafia- Versteck, sondern das Behandlungszimmer einer Psychotherapeutin in Peking. Nach wie vor kämpfen psychologische Beratungszentren in China um ihre Existenz. Zu tun gäbe es genug: Mit wirtschaftlicher Entwicklung und zunehmendem Wohlstand erleben die Menschen auch die Schattenseiten des Booms. Unter dem neuen Motto Konkurrenzkampf statt eiserner Reisschüssel wächst für viele der soziale und psychische Druck. „Eine immer größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich entsteht, Arbeitslosigkeit droht, Scheidungsraten steigen, und immer mehr Familien brechen auseinander“, so Qian Mingyi, Psychologieprofessorin an der Pekinger Universität.

Der Umbruch läßt viele orientierungslos zurück. Heute bleibt oft ein Vakuum zurück, wo früher die allgegenwärtige danwei, die Arbeitseinheit, zuständig war, die auch bei Ehekrisen, Kindererziehung und persönlichen Problemen vermittelte. Auch der Halt der konfuzianischen Großfamilie wird lockerer. Der einzelne bleibt mit seinen Problemen zunehmend auf sich selbst gestellt. Dennoch stehen die meisten der Psychotherapie noch skeptisch gegenüber: „Für ein bißchen Reden soll ich auch noch Geld bezahlen?“ lautet ein gängiges Urteil.

Zweifel gibt es auch an der Kompetenz und Qualifikation der Therapeuten. Das ist nicht ganz unbegründet. Moderne Psychologie und Psychotherapie stecken in China in den Kinderschuhen. „Erst mit Beginn der achtziger Jahre begann man Psychologie hier langsam als Wissenschaft zu begreifen und zu akzeptieren, daß Menschen mit psychischen Problemen professionelle Hilfe brauchen“, erläutert der Psychotherapeut Li Zixun. Zuvor war Psychologie tabu; wurde in der Kulturrevolution ab 1966 gar als „idealistische Wissenschaft der Kapitalisten“ gebrandmarkt. Psychische Probleme galten als Folge falscher revolutionärer Gesinnung und sollten allein durch „Umerziehung und revolutionäre Bewegungen“ beseitigt werden.

Heute fehlen qualifizierte Fachkräfte. Eine Lizenzpflicht oder übergeordnete Kontrollstelle gibt es nicht. „Wir haben noch nicht einmal verläßliche Zahlen, wieviel Leute derzeit als Psychotherapeuten praktizieren und vor allem mit welchen Qualifikationen“, so Qian von der Chinesischen Gesellschaft für Psychische Gesundheit. Viele Krankenhäuser bieten Psychotherapie an, nur um eine bestimmte Klassifizierungsstufe des Gesundheitsministeriums zu erreichen, verfügen aber nicht unbedingt über qualifiziertes Personal. Außer in Krankenhäusern sind Beratungszentren vor allem in den größeren Universitäten zu finden, wo ehemalige Lehrer mit Zusatzkenntnissen in Psychologie sowie mittlerweile einige Absolventen der neuen Psychologie-Fakultäten arbeiten. Für Fortbildungen fehlt jedoch das Geld. Der Staat unterstützt die Therapeuten kaum.

Derweil versuchen die Medien die Chinesen davon zu überzeugen, daß es keine Schande ist, bei psychischen Problemen Hilfe zu suchen. „Im Westen ist ein Besuch beim Psychologen so normal wie essen, wenn man Hunger hat“, heißt es in einer populären Zeitschrift. Dennoch trauen sich nach wie vor viele nur heimlich zur Beratung – möglichst weit weg vom Wohn- und Arbeitsplatz. „Wer psychische Probleme hat, ist selber schuld“, lautet ein gängiges Vorurteil. Dazu kommt, „daß die Tradition, persönliche Probleme nicht nach außen zu tragen, in vielen Chinesen noch tief verwurzelt ist“, so Therapeutin Qian. Erst die neue Oberschicht, die den höchsten Anteil der Patienten stellt, geht offener mit der eigenen Psyche um.

Der Durchschnittsbürger wendet sich eher an die Telefon-Hotlines. Sich anonym am Telefon das Gröbste von der Seele zu reden, halten viele noch für wirksamer als langfristige Beratungen, „bei denen ein Großteil nach ein bis zwei Terminen abbricht, wenn kein direkter Erfolg zu sehen ist“, erzählt Wang Xiaolan, ehemalige Vorsitzende des Huali-Beratungszentrums in Peking. 30.000 Anrufe nahm das Psychologische Zentrum in den letzten zwei Jahren entgegen. Zentren wie Huali sind noch rar. „Alleine von Psychotherapie kann bei Beratungspreisen von 10 bis 40 Yuan die Stunde keiner leben“, so Wang. Das sind zwei bis acht Mark.

„Kindertherapie ist eins der wenigen wirklich rentablen Felder solcher Zentren“, beschreibt Professorin Zhang Hongyi ihre Erfahrungen als Musiktherapeutin am Huali. „Für ihr einziges Kind sind viele Eltern bereit, wesentlich mehr Geld auszugeben als für sich selber.“ Und das Problem-Potential ist groß: Die pausbäckigen kleinen Kaiser, im Bollerwagen von ihren Omas hin- und hergeschoben, werden einerseits verhätschelt, haben aber gleichzeitig mit völlig übersteigerten Erwartungen der Eltern zu kämpfen. „Hoffen, daß aus dem Kind ein Drache wird“, beschreibt ein Sprichwort die Träume der heutigen Elterngeneration. Dazu kommt der enorme Leistungsdruck im streng hierarchischem Schulsystem. Grundschüler, die mit einem 15-Stunden- Tag bis spät abends über den Büchern hocken, um einmal eine der besten Unis besuchen zu können, sind keine Seltenheit. Für Freizeit, Spielen und anderen Ausgleich bleibt nur selten Platz: „Über 15 Prozent der Studenten zeigen heute akute Nervositätszustände, Konzentrationsprobleme und Lernblockaden“, so Musiktherapeutin Zhang.

Chinas Psychotherapeuten wollen eine eigene chinesische Therapieform entwickeln, die auch traditionelles asiatisches Denken, daoistische und buddhistische Elemente einbezieht. „Alle heute angewandten Psychotherapieformen sind komplett aus dem Ausland übernommen“, bedauert Qian. Doch dabei könnte es bleiben. Denn China braucht schnell viele Therapeuten. Statistiken sagen für die 1,2 Milliarden Chinesen künftig einen Bedarf von 2 bis 3 Millionen Psychotherapeuten voraus – heute gibt es etwa 2.000.