Total inhaltistische Plakate

Etwa Festliches strahlt die Massierung von Wahlplakaten aus. Besonders wenn ein Riesenbabygesicht uns gleich hundertfach anlächelt  ■ Von Detlef Kuhlbrodt (Text) und Rolf Schulten (Fotos)

Eigentlich ist der Wahlkampf schön! In ihrer Massierung haben die vielen bunten Wahlkampfplakate etwas Festliches. Man kann da auch drüber nachdenken. Über den kleinen Jungen zum Beispiel, der von einem Kreuzberger Wahlplakat, das sich die SPD ausgedacht hat, heruntergrinst. Die Zahnlücke, im übrigens recht ordentlichen Gebiß, verleiht ihm etwas Freches: „Wir wollen nicht, daß man Arme schon an ihren Zähnen erkennt“, steht auf dem Plakat. Das ist natürlich Blödsinn – wer genau hinschaut, kann ohne Schwierigkeiten arm und reich am Gebiß, an der Haut, an der Sprache und an den Gebärden unterscheiden – zum anderen ist das reformistische Augenwischerei! Armut soll unsichtbar sein, damit sich die Reichen nicht an ihr stören. Außerdem möchte ich auch nicht, daß man Arme schon an ihren Beinen erkennt.

Verwunderlich am Wahlkampf ist, daß soviel DDR-Sprüche auf den Wahlplakaten sind. Das Kanzlerplakat: „Weltklasse“, also Weltniveau. Oder die Grünen. Da hätte man sich Plakate mit quietschfidelen Kiffern gewünscht oder Junkies, die nach der Arbeit noch mal kurz im Gesundheitsraum vorbeischauen, um sich – Daumen hoch und Gegrinse in die Kamera – einen legalen Schuß zu setzen oder Plakate, die Autofahrer und Aktionäre als asoziale Idioten und Kindermörder denunzieren oder entschlossen gegen die Fahrscheinpreise der BVG protestieren. Was hätte es da nicht alles gegeben an offensiven Möglichkeiten. Statt dessen: „Frauen nach vorn. Nur mit uns – Gunda Röstel“, „Weltoffene Gesellschaft – Nur mit uns – Kerstin Müller.“ Tolle Demoparolen! Frauen vor – noch ein Tor! Vermutlich soll die totale sprachliche Redundanz, das offensive rhetorische Ungeschick der Grünen, den zu wählenden LehrerInnen- PolitologiestudentInnen- und HeimleiterInnengesichtern, die einen da so leicht gezwungen angrinsen, etwas authentisch Glaubwürdiges verleihen.

Die Grünen-Werbung sagt: Wir haben es eigentlich nicht nötig, Werbung zu machen. Wir sind total inhaltistisch. Und auch ein bißchen fröhlich. Allerdings immer: mit Verantwortung. Zwei Frauen tanzen Tango im roten Ballsaal (beim Mehringplatz) und schauen so, wie sich protestantische Lehrerlesben vorstellen, daß man schauen müsse, wenn man besonders verrucht, sexuell und lebenslustig ist. Darunter, wie überraschend: „Wir bringen die Verhältnisse zum Tanzen.“ Ich möchte nicht gerne in einer Gesellschaft leben, in der Tango Volkssport ist!

Gunda Röstel hat an der Kreuzung Gneisenau-, Mittenwalder Straße einen großen schwarzen Schnurrbart angemalt bekommen. Kohl posiert vielerorten mit obligatem Hitlerbärtchen. Jochen Feilcke, „Ihr ErVOLKSvertreter“, will schwarz-weiß von vorn und von hinten für Kreuzberg und die CDU in den Bundestag. Ich dachte erst, der wäre von der DVU. Früher hatten wir auf CDU-Wahlkampfplakate uriniert. Doch wer Wahlkampfplakate beschädigt oder beschmutzt kommt ins Gefängnis!

Carola von Baun möchte die Haarschneidpauschale hoch und die Steuern runtersetzen. SPD- Wahlplakate im Stile quietschbunter Trash-Movies aus den sechziger Jahren freuen sich über den bereits erlegten Kanzler. Auf dem einen („Wem die Stunde schlägt“) sieht man das abgeschnittene Kanzlerhaupt als Klöppel umherschwingen. Dazu assoziiert man dann Blut und umherspritzende Gehirnsülze für Jungwähler.

Etwa hundertmal schaut einen Eckhardt Barthel von der SPD für Kreuzberg in der Stresemannstraße an. Was das wieder gekostet hat! Eckhardt Barthel hat ein viel zu großes Riesenbabygesicht. Sein Grinsen changiert zwischen mongoloid und Jerry Lee Lewis, also irgendwie durchaus vertrauenserweckend und aufmunternd. Lustig wäre es gewesen, wenn man die Plakate mit dem barthelschen Gesicht daumenkinomäßig für die vorbeifahrenden Autofahrer angeordnet hätte. Wir bringen die Gesichter zum Lachen!

Am besten gefielen mir bislang die Wahlkampfplakate der mit Chance 2000 befreundeten APPD (Anarchistische Pogo Partei Deutschlands), die u.a. für Mitfickzentralen eintritt und neben Wolfgang Neuss auch „SS-Siggi“ als Ehrenmitglied hat: „Arbeit ist scheiße“, „Dumm, aber glücklich“, „Saufen, saufen, saufen“. Oder: „Autofahrer – die Melkkühe der Nation“. Wobei das – beim zweiten Blick – doch die APD (Autofahrerpartei Deutschlands) war.

Gestern brachte mir eine Freundin CDU-Sonnencreme. „Bloß nicht rot werden“, stand auf der einen; „Zukunft wählen“ auf der anderen Seite. Ich schmierte mich mit CDU ein, besitze seit fünf Monaten ein Grünen-Kondom, wegen der Verantwortung und werd' vermutlich Chance 2000 wählen.