Kommentar
: Blindes Vertrauen

■ Hamburg: Mit welchen Mehrheiten darf das Volk Gesetze machen?

Gemeinhin macht es Freude, wenn die SPD sich ärgert. Und sie ärgerte sich gewaltig, als die Initiative „Mehr Demokratie“ 220.000 Stimmen für ihr Begehren zusammenbekam, die Hürden für die Volksgesetzgebung abzuschaffen. Die Grün-Alternative Liste (GAL) hingegen feierte stolz den Erfolg. Warum sie den demokratischen Himmel auf Erden erwartet, wenn das Volk, unabhängig davon, wie viele sich an einer Abstimmung beteiligen, direkt mitbestimmen darf, bleibt ihr Geheimnis.

In Hamburg scheint nun das Schlimmste abgewendet. Am Samstag einigte sich die rot-grüne Koalition nach zähen Verhandlungen darauf, daß künftig statt der 25- eine 20-Prozent-Hürde gelten soll. Bleibt zu hoffen, daß die GAL-Mitglieder ihre anfängliche Begeisterung für den Erfolg der Initiative „Mehr Demokratie“ überdenken und dem Kompromiß zustimmen. Sicherlich, die Bürgerbeteiligung muß gestärkt werden. Aber ist es tatsächlich unzumutbar, 20 Prozent der Wahlberechtigten für ein neues Gesetz hinter sich zu bringen? Gutgläubig vertrauen die Fans direkter Demokratie darauf, daß Volkes Wille schon zum richtigen Ergebnis führen werde. Sollten sich die Vorstellungen der Initiative „Mehr Demokratie“ doch noch durchsetzen, wäre es denkbar, daß sich nur zehn Prozent der Wahlberechtigten an einer Abstimmung über die Wiedereinführung geschlossener Heime beteiligen, von diesen sechs Prozent dafür sind, und schon ist das neue Gesetz verabschiedet.

Problematisch ist nicht nur, daß bei einer Volksabstimmung komplexe Themen auf Ja-nein-Fragen reduziert werden müssen. Auch die Rechte der Minderheiten sind nicht gewährleistet. Anwohnerinitiativen setzen sich nicht nur für Verkehrsberuhigung ein. Genausooft organisieren sie sich gegen Flüchtlingswohnheime, Fixerstuben, Behinderteneinrichtungen und lesbisch-schwule Projekte. Ohne Hürden, die garantieren, daß eine angemessen hohe Zahl mitstimmt, kann das gefährlich sein. Erfahrungen in anderen Ländern zeigen, daß es ohnehin meist der organisierte politische Wille ist, der sich die Möglichkeit der Volksgesetzgebung zunutze macht. Finanzstarke Interessengruppen können erheblichen Einfluß auf den Entscheidungsprozeß der Wahlberechtigten nehmen. Zu suggerieren, hürdenlose Volksentscheide brächten „Mehr Demokratie“ ist deshalb populistische Effekthascherei. Silke Mertins

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