Starker Mann für Jelzin

■ Schon lange hat Boris Jelzin nicht mehr so schwach dagestanden. Mit der Wiederberufung Wiktor Tschernomyrdins zum Regierungschef hat Rußlands Präsident den Bock zum Gärtner gemacht. Denn der Mann, der Rußland jetzt vor Währungsverfall und Staatsbankrott bewahren soll, hat seinem Land in den letzten Jahren einen nicht geringen Teil der Misere eingebrockt.

Am letzten Freitag besuchte Boris Jelzin ein Flottenmanöver im fernen Osten seines Reiches. An Deck des Kreuzers „Peter der Große“ ließ sich Rußlands Präsident väterlich lächelnd am Händchen führen und erklärte, „hervorragender Laune“ zu sein. Den schon tagelang währenden Kellerrutsch der eigenen Währung und die schwere Finanzkrise seines Landes erwähnte er mit keinem Wort. „Solche Äußerungen unterstreichen, daß der Garant unserer Verfassung nicht ganz bei Trost ist“, schrieb die Tageszeitung Moskowski Komsomolez dazu.

Zwei Tage nach dem Flottenbesuch schickte Jelzin die Regierung in die Wüste, zum zweiten Mal in diesem Jahr. Dem Parlament versucht er nun den vorletzten Premier Tschernomyrdin als neuen Kabinettschef anzudrehen. Schon lange hat Rußlands Präsident nicht mehr so schwach dagestanden. Was sein eigenes, das höchste Staatsamt betrifft, so hat er bei dieser Gelegenheit versprochen, nicht mehr zu kandidieren.

Als Jelzin im Frühjahr in einer Nacht-und-Nebel-Aktion Tschernomyrdin gestürzt und den 35jährigen Kirijenko ins Amt gehievt hatte, waren sich alle Kommentatoren über den Hauptgrund einig: Der Ministerpräsident hatte zuviel politisches Gewicht gewonnen und war in Jelzins Augen zum gefährlichen Rivalen beim bevorstehenden Präsidentschaftswahlkampf im Jahre 2000 herangewachsen. Heute, fünf Monate später, begründet Jelzin die Rückkehr Tschernomyrdins damit, daß sein Land angesichts der finanziellen Krise an der Spitze der Regierung einen Mann aus der „Schwergewichtsklasse“ brauche. Außerdem sei Kontinuität notwendig im Hinblick auf die Wahlen im Jahre 2000. Mit anderen Worten: Jelzin ist bereit, sein Amt in zwei Jahren an Tschernomyrdin abzutreten.

Der soll das Land nun vor Währungsverfall und Staatsbankrott schützen. Dabei hat Tschernomyrdin selbst in jahrelanger Kleinarbeit seinem Land die Krisensuppe mit eingebrockt, die im August plötzlich überkochte und die Musterknabe Kirijenko vergeblich auszulöffeln versuchte. Anstatt die klobigen sowjetischen Monopole, vor allem auf dem Gebiet der Energiewirtschaft, aufzulösen, statt schwachen, aber vielversprechenden Betrieben und Kleinunternehmern Investitionshilfen zu gewähren und die Steuern bei jenen einzutreiben, bei denen welche einzutreiben waren, ließen die Regierungen unter Tschernomyrdin alles beim alten.

Die marode Wirtschaft wurde mit Einnahmen aus kurzfristigen Staatsanleihen (T-Bills) subventioniert. Jene, die eine Laufzeit von einem Jahr hatten, brachten ihren Käufern bis zu 200 Prozent Zinsen bei einer Inflationsrate von 12 Prozent. Aufgetrieben wurde das Geld durch den Verkauf neuer Anleihen. Bereits im Juli 1997 knisterte die Pyramide in ihren Fugen. Die Ausgaben für das Einhalten der alten Verpflichtungen übertrafen schon damals die Einnahmen aus dem Verkauf neuer Papiere. Es war nur eine Frage der Zeit, wann dieses Schema auffliegen würde.

Wenige Tage vor der schmerzlichen Rubelabwertung meldete sich ein Fachmann zu Wort und sagte den Staatsbankrott voraus. Es war der rußlandweit steckbrieflich gesuchte Hochstapler Wjatscheslaw Mawrodi. Mit seinem Bruder, dem Mathematiker Sergej Mawrodi, hatte er eine berühmt- berüchtigte Aktiengesellschaft und Finanzpyramide namens MMM aufgebaut. Als sie 1994 einstürzte, verloren 20 Millionen gutgläubige RussInnen ihre Ersparnisse. „Die Pyramide der kurzfristigen Staatsanleihen ist nur eine stümperhafte Nachahmung der MMM“, schrieb nun Mawrodi in einem Artikel. Die Wochenzeitung Nowaja Gaseta publizierte den Text nach einigem Zögern mit der redaktionellen Begründung: „Wer könnte einen Taschenspieler besser durchschauen als ein anderer Taschenspieler?“

Mawrodi geht in seinem Artikel so weit anzudeuten, daß Tschernomyrdin seine eigene Ablösung durch Kirijenko vor dem heiklen Moment geradezu geplant habe: „Was passiert in einer gewöhnlichen Pyramide, wenn ihre Führung begreift, daß sie ihren Verpflichtungen nicht mehr nachkommen kann? Die Führung versteckt sich und ernennt zur Beruhigung der Aktionäre einen absolut neuen Manager, den niemand kennt und der am Aufbau der Pyramide in keiner Weise beteiligt war. Wer wird schuld sein, wenn die T-Bill- Pyramide morgen einstürzt? Die alte Regierung existiert formal schon nicht mehr, und welche Beziehung zu den T-Bills hat unser harmloser neuer Premier? Richtig: gar keine.“

Der Hochstapler unterstellt Tschernomyrdin vermutlich eine allzu spielerische Beziehung zum Amt. Fest steht allerdings, daß dem Exchef des Mammut-Gasmonopols GASPROM die von Regierungspflichten freien Monate mehr genützt als geschadet haben. Tschernomyrdin konnte Jelzin und Kirijenko beweisen, daß er bei Machtspielchen auf dem Felde der Wirtschaft einen Heimvorteil hat. Und daß er die Spielregeln auf diesem Felde noch immer selbst bestimmen kann. Tschernomyrdins Maß machte Kirijenko in diesem Sommer voll, als er im Bereich der Steuereintreibung gleiche Regeln für alle einführen wollte. Ins Allerheiligste der mächtigen GASPROM, deren Steuern theoretisch 15 bis 20 Prozent des russischen Staatshaushalts ausmachen könnten, schickte er seine Inspektoren und ließ Ferienvillen und Yachten pfänden. Im Zuge der eigenen Rückernennung ist Tschernomyrdin noch eine zweite Laus im Pelz des Erdgasmonopolisten losgeworden: den bisherigen Vizepremier Boris Nemzow, der als Staatsvertreter im GASPROM-Aufsichtsrat saß.

Kirijenko und Nemzow bewiesen am Sonntag abend, daß sie stilvoll zu verlieren verstehen. Nachdem sie ihre Büros im Weißen Haus, dem Amtssitz der russischen Regierung, abgeschlossen hatten, schnappten sie sich eine Wodkaflasche und tranken unten auf der Straße Brüderschaft mit den Bergarbeitern. Die hatten während der gesamten Amtszeit Kirijenkos in einem Protestlager vor dem Regierungsgebäude campiert. Barbara Kerneck, Moskau