Befreiungsschläge in der Stadtgeschichte

■ Wie sind 1.216 Jahre Bremen im Museum darzustellen? Die Gestalter der neuen Dauerausstellung im Focke-Museum, Jörn Christiansen und Peter Dössel, haben die Antworten darauf gefunden – für die nächsten zehn Jahre

Der Original-Kaiser und die Original-Kurfürsten von der Fassade des Bremer Rathauses stehen im Focke-Museum noch an alter Stelle. Doch ansonsten hat sich im sanierten Haupthaus des Bremer Landesmuseums für Kunst- und Kulturgeschichte fast alles verändert. Es sind immerhin 1.216 Jahre Stadtgeschichte, die in der neu konzipierten Dauerausstellung dargestellt werden. Zwischen musealer Marktschreierei und konventioneller Präsentation, zwischen Inszenierung und Erzählung hat das Team um Museumschef Jörn Christiansen und Ausstellungsgestalter Peter Gössel seinen Weg gefunden. Anläßlich der Veröffentlichung des Kataloges und weil die Gestaltung in der Ausstellungsrezeption chronisch zu kurz kommt, erläuterten Christiansen und Gössel im taz -Gespräch, wie das gelang.

taz: Sie haben die Ausstellung im Haupthaus neu konzipiert – wer wirkte daran mit, und wie lange dauert so etwas?

Jörn Christiansen: In der Zusammenarbeit zwischen Museum und Gestalter gibt es zwei Modelle: Die Museumsleute erarbeiten ein sehr elaboriertes Drehbuch mit Objektlisten und Vorschlägen für deren Inszenierung und geben es dem Gestalter. Wir haben uns für ein anderes Modell entschieden: Der Gestalter war von Anfang an beteiligt.

Was waren die wichtigsten Themen in der Diskussion? Und gab es dabei Streitpunkte?

Christiansen: Die gab es, aber das reicht länger zurück. Es gab 1989 eine kleine Kommission, die im Auftrag der Kulturdeputation die Bremer Museen bereist hat mit dem Titel „Arbeit und Alltag“. Die hat damals sehr stark kritisiert und gefragt: „Wo ist die Frauengeschichte, wo ist die Arbeiterkultur, vermittelt das Museum überhaupt oder stellt es die Dinge nur hin?“ Diese Kommission war zum Teil sehr wirklichkeitsfremd, aber ihre Kritik bildete auch eine Grundlage für die neue Konzeption. Daraufhin haben wir uns zusammengesetzt und Archäologen, Kunsthistoriker, Volkskundler und Historiker am Tisch gehabt. Wir haben uns gefragt: Was haben wir überhaupt? Und wenn man den Bestand neu sieht, kann man eine Menge mehr machen als vorher.

Welche Schwerpunkte haben Sie gesetzt und worauf haben Sie verzichtet?

Christiansen: Wenn man sich entscheidet, mehr zu erzählen als vorher und über die Kunst- und Kulturgeschichte hinaus auch Sozial-, Wirtschafts- und Technikgeschichte hereinbringt, dann haben Sie ein Problem. Der Platz ist beschränkt, und da muß man neue Präferenzentscheidungen treffen.

Peter Gössel: Wir haben hier zwei Jahre lang eine intensive Diskussion geführt. Im ersten Jahr haben wir Vorentwürfe gemacht, und im zweiten Jahr sind wir ins Detail gegangen – welches Bild hängt wo, und wie ist es beschriftet. Aber das Entscheidende ist: Wir gehen davon weg, alles nur chronologisch zu erzählen. Die Entscheidung, den großen Eingangsraum als Themenraum zu gestalten, war der Befreiungsschlag. Wir nehmen uns einfach die Freiheit und greifen die Themen Bremer Haus oder Silberwaren raus, weil sie durch die Zeit gehen. Oder der Schiffbau in Bremen taucht immer wieder auf. Das sind Geschichten, die kann man in jeder Epoche erzählen: Die Investitionsfrage, wie bekommt man Firmen hierher, wie behaupten die sich am Markt, die Standortdebatte, die Entlassungen, die Geschichte der Schicksale. Ich erinnere mich an eine Ausstellung namens „Feuer und Flamme“, in der haben sie sogar die beiden Weltkriege zusammengefaßt.

Wie viele Bremen-Kenntnisse setzen Sie voraus?

Gössel: Grundsätzlich darf man gar nichts voraussetzen, denn es ist oft erschreckend, wie wenig die Leute wissen. Es gibt zwar auf der anderen Seite auch Leute, die kleine Fehler entdecken. Aber man muß davon ausgehen, daß auch viele Besucher von auswärts kommen.

Wissen Sie, wie viele?

Christiansen: Wir machen darüber noch keine Erhebung. Aber zehn Prozent auswärtige Besucher für die Dauerausstellung halte ich für realistisch. Das ist für eine Stadt, die nicht touristisch geprägt ist, nicht wenig.

Eine wichtige Entscheidung war auch, daß wir uns für das konventionelle Vertexten jedes Objektes entschieden haben, auch wenn es nicht modisch ist. Aber wir sind der Meinung, daß Erkenntnis über den Kopf läuft, und dafür ist der Text das geeignete Mittel. Wir haben lange diskutiert und uns dann für zwei Textebenen entschieden – die große mit maximal 1.000 Zeichen und die kleine mit höchstens 500. Das war ein heftiger Streit über die Frage, kann man damit noch genug erzählen?

Gössel: Die Erzählweise funktioniert nach dem Prinzip der Vertiefung. Die erste Ebene ist, ich lese keinen Text. Viele Leute lesen nicht. Das hat nichts mit Bildung zu tun – gerade die Gebildeten lesen nicht. Da kommt man rein und sieht Autos, das Bremer Haus, Schiffe. Und dann sehe ich im Rundgang Bilder zum Thema Kirche. Damit sind schon Zeichen gesetzt. Doch dann fange ich an, Überschriften zu lesen oder auch nur eine Objektbenennung. Und dann kommen irgendwann doch die Texte. Wir unterstellen, daß die Besucher kompetent im Umgang mit einem Museum sind und ihre Auswahl treffen. Wir machen nur Angebote. Ich habe das mal ausgerechnet, wenn man alle Texte liest und alle Bilder und Filme ansieht, ist man mehrere Tage durchgängig beschäftigt.

Christiansen: Wir setzen auf Wiederholungsbesucher. Die Vielfalt erfordert, daß man wiederkommt.

Gössel: Deshalb ist Komplexität in einer Dauerausstellung unbedingt notwendig. Es ist ganz wichtig, daß Besucher aus einem Museum mit dem Gefühl rausgehen, ich habe nicht alles gesehen.

Christiansen: Wir lassen in den Räumen nicht einfach Bilder entstehen – Grusel, Schauer, aha: die Schrecken des Krieges. Wir setzen den einzelnen Gegenstand und interpretieren ihn in immer anderem Zusammenhang.

Die Architektur des Ausstellungsgebäudes macht starke Vorgaben. Die P-Form macht es auch möglich, daß man nicht chronologisch durchgeht.

Gössel: Das war von vornherein Thema, aber wir haben uns gedacht, das ist keine Katastrophe. Die Geschichte von hinten abzulaufen, ist auch spannend.

Ist das eher gewollt als in Kauf genommen?

Christiansen: In Kauf genommen ist besser. Der chronologische Rundgang ist mir lieber.

Hatten Sie bei der Konzipierung Vorbilder?

Gössel: Jedes Museum erzählt seine eigene Geschichte, aber im Vergleich spielen wir vorne mit. Der Medieneinsatz ist in einem technologischen Stand, für den es kein Vorbild gibt. Diese Art, einen Vollbildschirm interaktiv zu nutzen, ist technisch anderswo noch nicht gelöst.

Wie hoch ist die Halbwertszeit dieses Konzeptes?

Christiansen: Das alte war 34 Jahre alt. Ich denke, wir werden das in den nächsten Jahren ständig verändern. Zum Beispiel fehlt noch die Multivisionsschau mit einer Einführung in die Bremer Geschichte, mit der wir noch nicht fertig geworden sind. Und wir haben jetzt schon Pläne, in der Ausstellung nachzuarbeiten. Doch irgendwann wird man in toto verändern. Innerhalb von zehn Jahren sollte man entweder Schritt für Schritt renoviert haben oder grundsätzlich nachdenken.

Haben Sie Kritik an der Kritik?

Gössel: Die vielen Gedanken, die man sich bei der Gestaltung macht, nehmen sehr schnell eine Form an, die nicht mehr vermittelbar ist. In der Ausstellungskritik findet eine Wiedergabe des Kataloges statt, Schwerpunkte werden kritisiert aus einer gewissen universitären Schule heraus. Aber die Umsetzung wird höchstens mal, wenn es auffällig war, in zwei bis drei Sätzen pointiert. Damit hat es sich. Es gibt keine Schule, in der über die Umsetzung in einem Raum diskutiert wird. Das ist beim Film völlig anders. Da gibt es eine neue Schnittechnik, und schon wird das in Kritiken diskutiert.

Doch dieses Medium Ausstellung ist ein Medium, das sich dadurch auszeichnet, daß die Leute wachen Auges wahrnehmen. Sie können dabei reden. Dadurch ist es sehr komplex. Wir sind schon damit zufrieden, wenn ein Vater am Sonntag mit seinen Kindern in die Ausstellung kommt, weil da ein Auto ist. Dann sind sie erstmal da und sehen, daß da noch vieles andere ist. Fragen: Christoph Köster

Ein Katalog zur neuen Dauerausstellung des Focke-Museums mit zahlreichen Abbildungen und den Beschriftungstexten ist soeben erschienen. Er kostet 20 Mark und ist im Museum erhältlich