American Pie
: Sexy wie sonst nichts

■ Der Homerun-Rekord im Baseball ist seit Babe Ruth der Gott der US-amerikanischen Statistik-Religion. Demnächst fällt er

A generation lost in space

Gerd Müller. 1971/72. 40. Was sagt uns das?

Roger Maris. 1961. 61. Das sagt in den USA jedem, daß im Jahre 1961 Roger Maris von den New York Yankees 61 Homeruns schlug und damit den Rekord von Babe Ruth brach, der 1927 für denselben Klub 60mal den Baseball in die Zuschauerränge beförderte.

Nun sieht es ganz so aus, als würde Maris' Rekord pulverisiert werden. Sammy Sosa von den Chicago Cubs hat bereits 51 Homeruns auf dem Konto, Mark McGwire von den St. Louis Cardinals sogar schon 53, und beide haben noch 32 Spiele Zeit, Maris zu überholen. McGwire hat sich bereits in den Rekordbüchern verewigt, weil er im dritten Jahr hintereinander mehr als 50 Homeruns erreichte. Das hat nicht einmal der legendäre Ruth geschafft.

Der Homerun-Rekord ist im statistiksüchtigen Amerika der mit Abstand wichtigste. Sports Illustrated nennt ihn „sports sexiest record“. Hier wird Geschichte gemacht. Keine Zeitung, die nicht mit einer täglichen „Maris Watch“ die aktuellen Daten der Kandidaten bereithält, keine Sportsendung, in der ein neuer Homerun von McGwire oder Sosa nicht die Topmeldung wäre.

Im Gegensatz zu früheren Jahren, als Spieler im Laufe der Saison der legendären 61 nahekamen, war diesmal die Rekordjagd schon vor dem ersten Pitch eröffnet. Durch die beiden neuen Teams, die Tampa Bay Devil Rays und die Arizona Diamondbacks, wurde die Liga noch größer. Mehr Klubs bedeutet mehr Pitcher, vor allem mehr schlechte Pitcher. Das bedeutet mehr schlechte Würfe, die man über die Zäune befördern kann. 1961, als Maris seinen Rekord schaffte, war auch so ein Jahr, in dem neue Klubs aufgenommen wurden. Allerdings gab es damals gerade mal 18 Teams, inzwischen sind es 30.

Ein weiterer Grund für die offensive Explosion der letzten Jahre sind die vielen neugebauten Stadien. Die sehen mit ihren efeuumrankten Absperrungen zwar aus wie aus den goldenen 20er Jahren, sind allerdings hochmodern und vor allem von den Architekten homerunfreundlich geplant, denn Homeruns will das Durchschnittspublikum sehen. Als Babe Ruth im Yankee-Stadion einen Großteil seiner Homeruns schlug, war der Zaun bis zu 140 Meter entfernt. Heute sind es nur noch 125 Meter. In den neuen Stadien muß ein Hit oft noch weniger Meter zurücklegen, um zum Homerun zu werden.

Aber auch die Spieler selbst sind mitverantwortlich. In den Zeiten von Babe Ruth oder Jimmie Foxx war Krafttraining ein Fremdwort. Es muß nicht jedem gefallen, daß Baseball als letzte Profisportart nun auch im Zeitalter des modernen Hochleistungssports angekommen ist, aber es wurde höchste Zeit.

Heutzutage bestimmen monströse Athleten wie der über 120 Kilo schwere Frank Thomas von den Chicago White Sox die Szenerie. Dante Bichette von den Colorado Rockies legte vor dieser Saison schnell mal fast 20 Kilo an Muskelmasse zu und sieht aus wie ein Football-Spieler. Daß hier nicht nur Kreatin im Spiel ist, das vom Körper selbst produziert wird, sondern, in Pillenform oder in die Proteindrinks gemischt, bei den meisten Teams in der Umkleidekabine ständig zur Verfügung steht, kann man den Oberarmen solcher Spieler deutlich ansehen.

Den Beweis dafür trat ausgerechnet der verehrte McGwire an, als vor wenigen Tagen bekannt wurde, daß er Androstenedion einnimmt, ein Vorläuferprodukt des Anabolikums Testosteron, wegen dem unlängst erst Kugelstoßweltrekordler Randy Barnes lebenslänglich gesperrt wurde. Androstenedion, das man in den USA wie Kreatin rezeptfrei in jedem Drugstore kaufen kann, steht zwar auf der Dopingliste des IOC und ist in der Football-Liga NFL verboten, im Baseball aber legal.

Wieder einmal muß der Blick in die Vergangenheit trösten. Babe Ruth schluckte vor den Spielen Alka Seltzer, um den Kater loszuwerden. Als Roger Maris spielte, waren Anabolika noch nicht einmal erfunden. Und Gerd Müller? Sah irgendwie auch nicht nach Anabolika aus. Thomas Winkler