Auf dem Weg zur Pseudo-Volksfront

Rußlands Premier in spe verhandelt mit allen Parteien über eine Regierungsbeteiligung. Die Kommunisten könnten im neuen Kabinett eine wichtige Rolle spielen. Die liberale Jabloko-Gruppe macht nicht mit  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Ein altes russisches Sprichwort besagt: „Man wechselt die Pferde nicht mitten in der Furt.“ Gestern rächte es sich, daß Präsident Boris Jelzin am Sonntag gegen diese Regel verstieß und auf dem Höhepunkt der ökonomischen Krise den Premier austauschte. Der Rubel fiel zum ersten Mal seit Dienstag letzter Woche in sensationelle Tiefen, bis auf 7,86 pro Dollar.

Auch wenn der kommissarische Premier Tschernomyrdin am Montag erklärt hatte, er werde die Zusammensetzung der Regierung erst nach seiner Bestätigung durch das Parlament bekanntgeben – die Moskauer Spatzen pfeifen bereits Informationen über die Zusammensetzung des neuen Kabinetts von den Dächern.

Eine ewige Gretchenfrage jeder hiesigen Kabinettsumformierung lautete in den letzten Jahren: Wird der im Westen als Reformgarant eingeschätzte, beim russischen Volk aber als Oberheuchler verhaßte Anatoli Tschubais dabeisein? Tschernomyrdins Umgebung läßt durchblicken, daß man Tschubais als Vizepremier haben wolle. Anders schallte es aus dem Mitarbeiterstab des Wanderers zwischen den Welten. Bisher, so Tschubais' Mitarbeiter, habe ihn niemand zu Verhandlungen eingeladen.

Die aktuelle Gretchenfrage Nummer zwei: Wird Boris Fjodorow auf seinem Posten bleiben? Den bisherigen Chef der Steuerbehörde hatte man erst letzte Woche auch noch zum stellvertretenden Premier ernannt. Der neue Regierungschef und Fjodorow sind Erbfeinde, nachdem unlängst Steuerinspektoren einen Teil von Tschernomyrdins ökonomischer Hausmacht pfändeten, Liegenschaften des Erdgas-Monopolisten Gasprom. Experten meinen: Eigentlich müsse Tschernomyrdin Fjodorow auf Knien darum bitten, im neuen Kabinett zu bleiben.

Gerade seine spektakulären Aktionen waren es, die während der Regierungszeit Kirijenkos die Hoffnungen des kreditgebenden Westens auf eine effektivere russische Finanzpolitik am Glimmen hielten. Außerdem kennt Fjodorow sich in der Weltwirtschaft aus, als einziger von allen Politikern, die zur Kooperation mit Tschernomyrdin bereit sind. Zu ihnen zählt seit gestern nicht mehr der bekannte Ökonom und Ex-Premier Jegor Gajdar, der mit seinem Institut für ökonomische Analysen bisher so ziemlich alle postsowjetischen Regierungen belieferte.

Erwartet wird ein Austausch fast aller für wirtschaftliche Fragen zuständigen Minister des alten Kabinetts. Überdauern im Amt könnte aber der unlängst aus den Reihen der russischen KP rekrutierte Minister für Handel und Industrie, Jurij Masljukow. Ihn braucht Tschernomyrdin als lebendiges Unterpfand bei den gegenwärtigen Koalitionsverhandlungen mit den Kommunisten.

Die Mitglieder dieser Partei strebten in den letzten Jahren die Macht nur zögerlich an, weil sie die Verantwortung generell scheuen. In einer Regierung Tschernomyrdin könnten sie durchaus die Rolle von Fellow-Travellers spielen. Andere vielversprechende Koalitionsverhandlungen führte der Premier in spe gestern mit Wladimir Schirinowskis sogenannter „liberaldemokratischer Partei“ und weiteren superpatriotischen Gruppierungen. Das alles erinnert an Goethes Spruch: Getretner Quark wird breit, nicht stark.

Als einzige aller Fraktionen hat sich bisher die Gruppe „Jabloko“ gegen eine Beteiligung an dieser Art von Pseudo-Volksfront ausgesprochen. Den Bach hinunter gehen mit Tschernomyrdins Machtantritt alle Hoffnungen für die von Jabloko seit Jahren propagierte grundlegende Umkrempelung der ihrem Wesen nach noch sowjetischen russischen Volkswirtschaft. Was also allem Anschein nach bevorsteht, ist eine sogenannte „Regierung des Volksvertrauens“, wobei die Kommunisten und allerlei Splittergrüppchen das Volk imitieren, während die Quelle für das Vertrauen nicht auszumachen ist.