Karlsruhe liebt kritische Flugschriften

■ Verfassungsgericht kassiert Urteil: Linke Flugblattschreiber hetzten nicht gegen Staat. Machtkritik besonders schutzbedürftig

Karlsruhe (taz) – Das Verfassungsgericht streitet mal wieder mutig für die Meinungsfreiheit. In einem gestern bekanntgemachten Beschluß wurde ein Strafurteil des Landgerichts München I aufgehoben. Das bayerische Gericht hatte einen linken Flugblattschreiber wegen „Verunglimpfung des Staates“ zu 2.000 Mark Geldstrafe verurteilt.

Der Rechtsstreit geht auf einen Vorfall im Jahr 1991 zurück. Damals hatte in München ein Bündnis linker Gruppen eine „Mahn- und Schutzwache“ veranstaltet. Gedacht wurde der Opfer des rechtsradikalen Sprengstoffanschlags auf das Münchener Oktoberfest im Jahr 1980. Dreizehn Menschen waren damals getötet worden, rund 200 verletzt. Der Attentäter Gundolf Köhler kam bei dem Anschlag selbst ums Leben, die Polizei sah einen „Einzeltäter“ am Werk und stellte die Ermittlungen ein. Tatsächlich hatte Köhler aber enge Verbindungen zur „Wehrsportgruppe Hoffmann“.

In einem Flugblatt, das bei der Mahnwache verteilt worden war, hieß es denn auch, die Ermittlungen seien „unter eifriger Hilfestellung von Strauß und seiner CSU“ eingestellt worden. Im Hinblick auf weitere Anschläge mit rechtsradikalem Hintergrund wurde ergänzt: „Politiker gießen täglich Öl ins Feuer, einzig und allein, um die Mordstimmung weiter einzuheizen.“ Diesen Befund verknüpften die Flugblattschreiber in einem politischen Rundumschlag mit der Wiedervereinigung, der mangelhaften NS-Aufarbeitung und der Asylpolitik. Zum Schluß hieß es: Der Münchener Anschlag dürfe nicht vergessen werden „in einer Zeit, in der die Regierung selbst auf ihre Fahnen geschrieben und durchgesetzt hat, wofür der Wehrsportgruppenchef Karl Heinz Hoffmann seine Leute trainierte: ein aggressives Großdeutschland.“

Aus dieser verwinkelten Argumentation in dem Flugblatt konstruierte das Münchener Landgericht eine „Verunglimpfung des Staates“, die nicht mehr von der Meinungsfreiheit gedeckt sei. Hier werde die Bundesrepublik „mit einem faschistischen Staat gleichgesetzt“. Verurteilt wurde ein Mann aus München, der für das Flugblatt presserechtlich verantwortlich war.

Seine Verfassungsbeschwerde hatte nun bei einer mit drei Richtern besetzten Kammer des Bundesverfassungsgerichts Erfolg. Der Mann hatte gerügt, dem Flugblatt sei durch einseitige Interpretationen „ein völlig überzogener Inhalt untergeschoben“ worden. Auch Karlsruhe fand, das Landgericht habe die Anforderungen des Grundgesetzes „nicht hinreichend beachtet“. Die Verfassungsrichter betonten, daß „Machtkritik“ immer besonders schutzbedürftig sei. Das Landgericht muß nun in einem neuen Verfahren prüfen, ob nicht auch „andere inhaltliche Deutungen“ des Flugblattes möglich sind – zum Beispiel nicht strafbare. (Az 1 BvR 287/93) Christian Rath