„Man muß auch mal die Null vorweg wählen“

■ Eine kurze Einführung in den Lokaljournalismus / 8. Lektion: Die Wahrheit hat manchmal zwei Seiten

Danke, danke, danke. Ihre Resonanz auf unsere kleine Schule des Lokaljournalismus ist überwältigend. Täglich erreichen uns säcke-, nein bergeweise Post, Faxe und andere Zuschriften, die uns die Gewißheit vermitteln, daß wir einen Nerv getroffen haben. Frau S. aus B. etwa rätselte noch vor zwei Wochen: „Also ich weiß nicht, ist das ernst gemeint oder soll das witzig sein?“ Doch schon antwortet Frau L. aus R.: „Gerade die Mischung aus Information und Unterhaltung gefällt mir überaus.“ Ähnlich und zum Teil noch überschwänglicher die Zuschriften von 318 weiteren LeserInnen. Stellvertretend für Sie alle sei an Frau L. geantwortet: Sie haben verstanden! Und deshalb greifen wir auch Ihre Empfehlung auf, den Begriff „Lokaljournalismus“ mal als solchen unter die Lupe zu nehmen und von anderen Journalismen zu unterscheiden.

Nach dem etymologischen Wörterbuch basiert das Wort „Lokal“ oder „lokal“ auf dem lateinischen Wort „Locus“ für Ort, Platz, Stelle und kam wie der Begriff „Journalismus“ im 18. Jahrhundert über Frankreich nach Deutschland. Lokaljournalisten berichten demzufolge über Ereignisse an Ort und Stelle. Im Gegensatz zu Welt-Journalisten, Stern-Journalisten oder Fernseh-Journalisten sind sie gern vor Ort, scheuen weder überlaufende Abflußrohre noch Gaststätten minderer Güte und finden auch für die kleinen Sorgen und Nöte von Opa Krawulke und Lieschen Müller Platz. Das ist Berufung wie Verpflichtung zugleich, wie folgendes Fallbeispiel zeigen wird.

Der Konflikt an der niedersächsisch-bremischen Landesgrenze hat sich verschärft. Gerade haben die 380 Freiwilligen im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (ABM-Finanzierung beantragt) den Frank-Haller-Wall zum Schutz Bremens vor dem Umland fertiggestellt, da lädt der Senat eilig zur Pressekonferenz: „Umlandbürgermei-ster bewerfen die Stadtbürgerwehr am Frank-Haller-Wall mit Speck! Setzen die Sachsen bald Waffen ein?“ Wirtschaftsstaatsrat Frank Haller und Innensenator Ralf Borttscheller treten gemeinsam vor die Presse und rufen: „Das Verhalten ist skandalös! Das ist der Anfang einer Gewaltspirale und nicht hinnehmbar! So etwas hat es in der 1.216jährigen Geschichte Bremens nicht gegeben! Das gefährdet den Standort! Und wenn es Bremen nicht gut geht, kann es auch dem Umland nicht gut gehen!“

Das ist mal eine Geschichte, und da lassen sich gut und gerne 80 Zeilen Aufmacher plus Kommentar drüber schreiben. Doch Sie wollen es wieder mal besonders gut machen. Sie erinnern sich an Ihr Praktikum in der kleinen Schule des Lokaljournalismus und an den Satz „Man muß auch mal die Null vorweg wählen“. Ein Herr S. aus H. hatte Ihnen damals erklärt, daß man auch außerhalb des Ortswahlbereiches recherchieren sollte und daß der Blick von Auswärtigen ein neues Licht auf Ihre Region werfen kann. Diese Worte hallen durch Ihr Ohr, und weil die Telefonleitungen zwischen Bremen und Niedersachsen noch intakt sind, fangen Sie an, eine Telefonnummer mit Vorwahl zu wählen.

Nach einer Stunde haben Sie noch niemanden erreicht. Nach zwei Stunden kommt Ihr Chef und sagt: „Laß doch die Telefoniererei, schreib Deinen Text.“ Nach drei Stunden haben Sie Ihren Text fertig und endlich den Syker Bürgermeister Enno Osmers am Apparat. Er ist entsetzt: „Von Waffengewalt kann keine Rede sein.“ Sie fragen nach: „Ja, am Enno-Osmers-Biotop wurde mit Speck geworfen“, gibt er zu. „Aber wir haben nicht auf die Stadtbürgerwehr gezielt!“ Und Sie erfahren den Grund: „Wir wollten der Bremer Bevölkerung helfen. Es war eine Aktion des Vereins ,Weihnachtshilfe' der Syker Kreiszeitung.“

Nach Ende des Telefonats rennen Sie aufgeregt zum Chef. Sie sagen: „Ich-hab-da-was-ich-muß-den-Text-umschreiben! Das war kein Speckanschlag aus dem Speckgürtel!“ Der Chef sagt: „Hier wird gar nichts mehr umgeschrieben! Wenn die was zu meckern haben, melden die sich schon. Morgen ist schließlich auch noch ein Tag.“ Sie sagen: „Aber das war eine Aktion des Vereins ,Weihnachtshilfe' der Syker ...“ Der Chef unterbricht: „Was? Die Syker haben auch einen Verein ,Weihnachtshilfe'? Das bedeutet: Krieg!“

P.S.: Jetzt sollten Sie am besten ganz schnell und unauffällig das Lokal wechseln. ck

Die nächste Folge der kleinen Schule des Lokaljournalismus stellt Ihnen technische Revolutionen und eine aussterbende Berufsgruppe vor.