Schokolade vs. Lebensernst

Wie Sirup zu Blut gerinnt und Bilder zu einer Bühne werden, auf der die Wahrnehmung an sich vorgeführt wird. Ein Porträt des jungen Fotokünstlers Vik Muniz  ■ Von Henrike Thomson

Eine raffinierte Skizze. Eine kindliche Schmiererei mit Schokolade. Ein gestochen scharfes Foto. Eine Geschichte, meint obendrein der Begleittext. Ihr Titel will sich auch nicht festlegen: „Napole-ao ou Lampi-ao“ heißt das großformatige Bild, das derzeit in der Ausstellung „Der brasilianische Blick“ in Berlin hängt. In einer sämig verlaufenen Pfütze aus Schoko-Sirup deutet es einen Reiter mit Dreispitz an. „Le Messager/The Bo-Between“: Diese Titel, auf seinen Vorreiter Pierre Verger gemünzt, ist auch für den jungen Fotokünstler Vik Muniz aus São Paulo Programm.

Dem amerikanischen Kultursoziologen Lewis Hyde zufolge hat Kunst in Boten wie Merkur und Zauberkünstlern wie dem brasilianischen Malanoso ihr mythologisches Pendant. Diese „Trickster“- Figuren sind die Techniker und Übersetzer der unterschiedlichen ästhetischen Ordnungen, wobei sie allerdings nicht „wortgetreu“ übermitteln, sondern Assoziationsfelder schaffen, die schalkhaft bunt schillern wie ein Harlekin. In dieser spielerischen Tradition steht auch die „Schokoladen-Serie“ (1997), für die Vik Muniz verschiedene westliche Ikonen in Sirup der Marke Bosco goß und ablichtete. Jedes Foto läßt eine andere Assoziation hervortreten. Bei Freud zum Beispiel denke ich zuerst an Lust. Bei Jackson Pollock scheinen die Schlieren dessen „Drip Painting“ zu evozieren. Angesichts der Feldherrenpose von „Napoleon oder Lampi-ao“ wirkt der Sirup plötzlich wie Blut – immerhin war Lampi-ao ein revolutionärer brasilianischer Volksheld, der für die armen Kakaobauern im Nordosten kämpfte.

Foto für Foto eine andere Assoziation

Wie Assoziationen sich an herrschenden Bildern und am herrschenden Wissen herauskristallisieren, führen auch Muniz' „Zucker-Kinder“ (1996) vor. Die sechs Porträts entstanden nach dem gleichen Verfahren. Ihre volle Wirkung entfalten die Arbeiten aus Zucker aber erst, wenn man weiß, daß die süßen kleinen Arbeiterkinder auf einer Zuckerplantage sind und einem Leben voll harter Schufterei entgegensehen, von der sie am Ende vermutlich genauso wenig haben werden wie ihre Eltern. Sechs Gläser mit den Namen und dem weißen Pulver, das ihre Züge enthalten hatte, wurden mit ausgestellt. Wie Urnen schienen sie ein einheitlich bitteres Resümee zu ziehen.

Genau besehen sind die Gläser jedoch weniger ein Kommentar zum Schicksal der Kinder als zum Schicksal der Klischees an den Wänden und in den Köpfen. Im gleichen Jahr hat Muniz in der Kunstzeitschrift Parkett einmal ein Bild (in diesem Fall von einer Kinderheiligen) so definiert: „Weit entfernt von der Platonischen Geometrie eines Standardsargs finden wir hier ein Wesen, das in sein eigenes mimetisches Abbild eingeschlossen ist.“ Die gläsernen „Urnen“ der „Zucker-Kinder“ sind nur ein alternatives Memento mori, wo die doppelt granulierten Bilder gleichsam geronnen aufbewahrt scheinen. Mit ein bißchen Phantasie kann man nun also selbst den ganzen Kreislauf vollziehen: von den ungewissen Anfängen der Idee über ihre künstlerische Umsetzung bis zu ihrem Vergessen.

Der Künstler als Verbindungsmann

Im Falle der „Schokoladen-Serie“ ist diese Projektion nicht ganz so leicht zu haben. Als das Negativ fertig war, leckte Muniz die Zeichnungen auf. Ganz wörtlich ist hier sein Diktum zu nehmen: „Der Künstler ist die Verbindung zwischen der Oberfläche und dem Versprechen ihrer Tiefe.“

Aber wer ist dieser Verbindungsmann? Vik Muniz wurde 1961 in São Paulo geboren. Sein Vater machte sich als cleverer Billard- und Kartenspieler einen Namen – und Feinde. Er trug, erzählt Muniz, stets Seidenhemden mit hohem Stehkragen. Sie waren der beste Schutz gegen Rasierklingen, die an dem hauchdünnen, aber elastischen Stoff wie magisch abprallten. Eines Nachts, erzählt der sehnige Mann augenzwinkernd und mit quecksilbrigen Gesten weiter, gewann der Vater eine Gesamtausgabe der „Encyclopædia Britannica“. Sie wurde das geistige Fundament des Sohnes. Ein kunterbunt zusammengewürfeltes Wissen, das jedoch in einer ausgeklügelten Verweissystematik geordnet ist, prägt Muniz' Denken.

Nach dem Kunststudium ging er mit 22 Jahren nach New York, an der neuen Sprache und Kultur entzündete sich sein Interesse an Kommunikations- und Transformationsprozessen. Ovids „Metamorphosen“ und Gombrichs Theorien zu Kunst und Illusion wurden zum theoretischen Rüstzeug. „Ich versuche, den Moment festzunageln, in dem Veränderung stattfindet“, beschreibt Muniz die Arbeit in seinem Studio in Brooklyn. „Den Moment, wo ein Dreieck und ein Kreis zum Grab eines lange verstorbenen Pharaos werden.“ Ihn fasziniert „dieses dynamische Theater der Formen, wo Kohlestriche die Rolle einer arkadischen Landschaft spielen können“. Schokolade, Zucker, Sand, Watte, Draht – all die ausgefallenen Materialen, die er bisher verwandt hat, sieht er als schlechte, durchschaubare Laiendarsteller. Wer in dieser Schmierenkomödie den hehren Feldherren erblickt, hat eine wunderbare Chance: seinen Geist dabei zu ertappen, wie er etwas sehen und glauben möchte.

Ausstellung: „Der brasiliansiche Blick“, bis 13. September im Haus der Kulturen der Welt