Kleinvieh im Neurosenzoo

■ Ralf Rothmanns Roman über eine „vermatschte“ Figur

Louis Blaul, genannt Lolly, 20, ein „romantischer Esel“, hat ein Problem. „Ja, ich schäme mich für diese Frau, die ich liebe, und schäme mich für meine Scham.“ Diese Frau, das ist Vanina, genannt Vanny. Klein, pummelig, Oberschenkel, die einen Mittelstürmer blaß vor Neid werden lassen. Aber ihr Hintern ist noch enormer – „wie ein Brauereipferd“, zum Totlachen.

Lolly, groß und schmächtig, hat noch andere Probleme. Er ist schüchtern, um nicht zu sagen: feige (aber mit Charme). Trägt Sonnenbrille Tag und Nacht, weil ihm jemand einen Silberblick eingeredet hat. Und dann sind da noch seine getrennt lebenden Eltern. Beide Mitte 40, die Mutter immer noch als umherschweifendes Hippie-Girl aktiv, Dad dagegen ist Chef einer Werbeagentur, Zen und anderen Nepalkram betreibt er nur noch als Ausgleichssport. Vor 20 Jahren haben sie ihr Söhnchen während einer Anti- Atomkraft-Demo im legendären Brokdorf gezeugt. Das war so ziemlich ihre letzte gemeinsame Tat. Lolly, von Oma und Opa im Ruhrgebiet großgezogen, träumt weiter vom Familienglück zu dritt.

Da ist sie wieder, die aus den Romanen „Stier“ und „Wäldernacht“ bekannte Rothmann-Welt der sechziger und siebziger Jahre: der rauhe, aber herzliche Kohlenpott, Huckleberry-Finn-Land zwischen Pütt, Pils und Pommes rotweiß, Taubenschlag und stillgelegter Sargtischlerei. Dann der große Riß, Umzug ins kalte, großkotzig verspießerte Berlin, rein in die neunziger Jahre. Viel geändert hat sich anscheinend nicht – Frauen- WGs spielen unverändert Mode- Lesbe und Schwanz-ab, der Rest der Menschheit kifft und säuft, kennt sich besser aus mit Hare Krishna als mit HipHop, die sexuellen Verklemmungen haben teilweise adenauermiefiges Ausmaß.

Rothmann, geboren 1953, rechnet mit seiner Generation ab, „die nichts, aber auch gar nichts auf die Reihe gekriegt hat“. Er tut dies nicht mit Schaum vor dem Mund, sondern eher melancholisch augenzwinkernd – und gerät dabei zuweilen in die nett plätschernde Klischeeseligkeit neudeutscher Katja-Riemann-Komödien: die toll aussehende Hippie-Kumpel- Mutti, der vollgefressene Handy- Creative-Director-Vati. (Auf den Schwulen vom Dienst wird hier dankenswerterweise verzichtet.)

Als Lolly dann aber nach etwa zwei Dritteln des Buchs von den Zuchthausjahren seiner Mutter berichtet, Drogenschmuggel aus Liebe und Naivität, wird aus der Tussi eine tragische Gestalt, die papierne Repräsentantin der Neunundsechziger gewinnt Format und Profil. Rothmann, der Lolly den ganzen Roman erzählen läßt, kriegt den Spagat zwischen gewohnt poetisch-eleganter Sprache und Voll-geil-Jugendslang ohne Peinlichkeiten hin. Wie in jedem seiner bisherigen Romane gibt es auch hier wieder einige Kabinettstückchen: eine Bettnummer mit U-Bahn-Simulation, eine witzig- entlarvende Diebstahlszene im Lebensmittelmarkt. Daß mich die Geschichte insgesamt aber nicht gerade vom Hocker reißt, liegt daran, daß ich sie so oder ähnlich schon zu oft gesehen und gelesen habe. Dietmar Sous

Ralf Rothmann: „Flieh, mein Freund!“. Roman. Suhrkamp Verlag. Frankfurt a.M., 1998. 278 S., 39,80 DM