Alte Menschen werden mit Gewalt verwaltet

■ Bewohner von Senioren- und Pflegeheimen ans Bett zu fesseln ist keine Ausnahme. Der Verein „Handeln statt Mißhandeln“ wendet sich gegen die Devise „Pille statt Beziehung“

Bonn (taz) – Einschließen, festbinden, isolieren, ruhigstellen: Gewalt gegen alte Menschen in Pflege- und Altenheimen nimmt zu. „Es handelt sich hierbei keineswegs nur um wenige Einzelfälle“, sagt die zweite Bundesvorsitzende des Sozialverbandes Reichsbund, Ina Stein. Gemeinsam mit vier weiteren Alten- und Sozialorganisationen hat der Reichsbund daher eine Initiative gestartet, die die Mißstände in deutschen Altenheimen öffentlich machen will.

Umfassende Untersuchungen existieren bisher nicht. Das liegt einerseits daran, daß die Verantwortlichen die Probleme bagatellisieren. Andererseits wollen die Opfer aus Angst nicht oder höchstens anonym über die Mißhandlungen reden. Allerdings gibt es einzelne Stichprobenerhebungen: Eine Studie in diesem Jahr hat 2.200 „freiheitsentziehende Maßnahmen“ an einem Tag in 26 deutschen Altenheimen festgestellt, zum Teil mehrere an einer Person. Die bestehen in den meisten Fällen aus Bettgittern, die ungefragt angebracht, und aus Medikamenten, die allein zur Ruhigstellung und nicht aus medizinischen Gründen verabreicht werden. Auf die Bundesrepublik hochgerechnet, müßte man danach täglich mit fast 400.000 freiheitsentziehenden Maßnahmen rechnen. Eine andere Studie untersuchte drei Monate lang die Pflegestationen von sechs Altenheimen. Über die Hälfte der Bewohner wurden gegen ihren Willen in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt, davon 70 Prozent mehr als acht Stunden täglich.

„Es herrscht die Devise ,Pille statt Beziehung‘“, sagt der Chefarzt der gerontopsychiatrischen Abteilung der Rheinischen Landeskliniken, Professor Rolf Dieter Hirsch. Er hat im April 1997 in Bonn den Verein „Handeln statt Mißhandeln“ gegründet, der über Krisentelefon älteren Gewaltopfern Hilfe anbietet. In gemeinsamen Sitzungen mit dem Pflegepersonal und den Betroffenen versucht der Verein, einen Ausweg aus der Gewaltspirale zu finden. Nicht immer mit Erfolg: Im Fall eines Mannes, den seine Tochter zunächst nackt im Bett liegend vorfand und der wenige Wochen später schließlich ohne Erlaubnis im Bett fixiert wurde, wies die Heimleitung die Beschwerde der Tochter ab. Der Verein half bei der Suche nach einem neuen Heimplatz.

„Wir wollen weder Einrichtungen noch Pflegekräfte angreifen“, sagt Ina Stein. Schuld an der Situation sei vor allem der Mangel an Fachpersonal. Zur Zeit sind mit durchschnittlich 46,5 Prozent noch nicht einmal die Hälfte der Pflege- auch Fachkräfte. Die Initiative fordert daher eine Quote von mindestens 60 Prozent Fachkräften, die regelmäßig weitergebildet werden sollten. Und die Kontrolle der Heime durch die Heimaufsicht der Sozialbehörden müsse verstärkt und ohne vorherige Ankündigung durchgeführt werden. Diese Forderungen unterstützt auch der Deutsche Berufsverband für Altenpflege, der runde Tische mit Vertretern der Opfer- und Täterseite nach dem Vorbild der Bonner Initiative bundesweit einrichten möchte.

„Die Frage ist doch, wieviel sind uns unsere alten Menschen wert“, sagt Ina Stein. Die Pflegeversicherung gebe die Voraussetzung für menschenwürdige Pflege. Jetzt gelte es, diese auch Wirklichkeit werden zu lassen. Cornelia Fuchs