Nicht zum Abschuß freigeben

Das Reh hat unter Jägern, Bauern und Naturschützern einen schlechten Ruf. Es fresse die Wälder kahl. Stimmt, sagen Wildtierforscher. Doch sei dies nun einmal die Bestimmung unseres Waldes. Ein Berliner Institut untersucht jetzt den Einfluß diverser Huftierarten auf die Vegetation  ■ Von Annette Jensen

In Bayern und Baden-Württemberg werden Rehe wie Ratten verfolgt“, empört sich Reinhold Hofmann, der seit 1992 das Institut für Zoo- und Wildtierforschung in Berlin leitet. Doch wer von einer Plage spreche, habe ausschließlich Jagd- und Forstinteressen im Blick und ignoriere die Ökologie. Nicht das Reh sei das Problem – sondern der Glaube vieler Leute, daß ein dichter, dunkler Wald in Deutschland ein natürlicher Zustand sei, den das Schalenwild durch Verbiß gefährde, sagt der Professor.

Ähnlich wie heute noch in den Savannen Ostafrikas lebten früher in Europa Dutzende großer Huftierarten. Während sich die bereits etwa zwanzig Millionen Jahre alten Elche und Rehe überwiegend von Blättern und zarten Bodenkräutern ernähren, entwickelten sich die Rauhfutterfresser wie Rinder, Schafe und Pferde erst parallel mit den Gräsern vor etwa zwölf Millionen Jahren.

Zusammen mit Wildschweinen, Rothirschen und Mammut sorgten sie dafür, daß Mitteleuropa zu einer offenen Tundralandschaft wurde und auch in Wäldern Lichtungen frei blieben. Viele Schößlinge konnten sich nicht zu Bäumen auswachsen, weil sie entweder abgefressen oder von den Tieren zertrampelt wurden. Dafür entstanden aber gute Lebensbedingungen für lichthungrige Pflanzen, die unter einem dichten Laubdach eingegangen wären. Nach der letzten Eiszeit vor knapp zwanzigtausend Jahren änderte sich diese Situation. Der Homo sapiens hatte gelernt, Speere herzustellen und mit Pfeil und Bogen umzugehen. Die großen Huftiere waren nicht auf Feinde und Flucht vorbereitet, und die Evolution war zu langsam, als daß sie sich hätten drauf einstellen können. Das Mammut verschwand. Das Wollnashorn verschwand. Und auch der Steppenwisent wurde ausgerottet. Damit waren jene Arten ausgelöscht, die wie Bulldozer Schneisen ins Dickicht schlagen konnten. Gleichzeitig breiteten sich immer mehr Gehölze aus, die sich während der kalten Jahrtausende in den Süden zurückgezogen hatten. So wurden Wälder in Mitteleuropa landschaftsbestimmend. Das war vor etwa zehntausend Jahren.

Die Entwässerung von Mooren und Sümpfen seit dem späten Mittelalter machte dann schließlich auch dem Elch und dem Wisent hierzulande den Garaus. Und seit 1627 gilt auch der wildlebende Auerochse als ausgestorben. Übriggeblieben sind die Haustierarten, Wildschweine, Rehe und Hirsche – und die Überzeugung vieler Menschen, daß Großtiere vor allem in der Dritten Welt gefährdet sind, während in Mitteleuropa sowieso nur wenige Arten heimisch sind.

Die Thesen darüber, wie es vor Zehntausenden von Jahren in unseren Breitengraden ausgesehen hat, leitet das Institut für Zoo- und Wildtierforschung insbesondere von detaillierten Kenntnissen der Fortpflanzungs- und Ernährungsgewohnheiten der großen Vegetarier ab. Über dreißig Biologen, Veterinärmediziner, Verhaltens- und Reproduktionsforscher sowie Kenner von Epidemien und Parasiten arbeiten hier eng zusammen – in dieser Vielfalt einmalig in Deutschland.

Daß Rehe – im Gegensatz zu fast allen anderen europäischen Huftierarten – überleben konnten, führt Hofmann vor allem auf ihre enorme Anpassungsfähigkeit zurück. So reagieren sie auf die ersten Schüsse der Jagdzeit damit, daß sie ihre Aktivität vorwiegend in die Nacht verlegen und offene Flächen meiden. Außerdem haben sie ein biochemisches Gegenmittel im Speichel entwickelt, das die Gerbsäure der Eiche und andere Selbstschutzmechanismen von Pflanzen außer Kraft setzt.

Und schließlich verfügen Rehe als weltweit einzige Huftierart über die Fähigkeit der Eiruhe. Die für beide Geschlechter anstrengende Brunftzeit findet im Sommer statt, wenn ausreichend Futter vorhanden ist. Bei der Körpergröße von Rehen müßten die Jungen eigentlich fünf Monate später und damit mitten im Winter zur Welt kommen. Doch genau so lange passiert zunächst gar nichts mit der befruchteten Eizelle. Erst kurz nach der Sonnenwende zu Winteranfang beginnt der Embryo zu wachsen, und nach weiteren fünf Monaten kommen die Kitze zur Welt – nach und nach, damit bei kalter Witterung zumindest einige die ersten kritischen Tage überleben. Das alles hat den Rehen geholfen, massive Klimawechsel und auch die Nachstellungen durch den Menschen zu überstehen.

Bei aller Anpassungsfähigkeit aber ließen sich die Rehe im Gegensatz zu Kühen oder Schafen nicht domestizieren – ihr Bedarf an frischer, sehr leichter Kost macht selbst dem Zoopersonal Schwierigkeiten bei der Pflege.

Rehe als Waldschädlinge zu diffamieren und permanent zwischen Mai und Januar zu bejagen ignoriere aufs neue die Wechselwirkungen innerhalb von Biotopen, sagt Hofmann. „In einem Ökosystem kann man Pflanzen und Tiere nicht gegeneinander ausspielen. Es gibt keine Gewinner- und Verliererseite“, ist der Professor überzeugt. Zwar sei es richtig, daß die Buche sehr anfällig für Verbiß sei. Doch das sei eben ihr natürlicher Nachteil zum Beispiel gegenüber der Eiche, die immer wieder ausschlägt und sich auch auf offenen Flächen wohl fühlt. Ließe man der natürlichen Entwicklung ihren Lauf, müßte die Buche wohl vielerorts gegenüber robusteren Hölzern wie Linde, Ahorn, Eibe oder Esche zurückstecken. Warum auch nicht?

Institutsdirektor Hofmann plädiert dafür, daß Vegetations- und Tierkundler wieder enger zusammenarbeiten, anstatt die Trennung nachzuvollziehen, die die konventionelle Landwirtschaft und die Nutzer von Wild und Holz machen. Es sei jedenfalls völlig verquer, die wenigen übriggebliebenen Tierarten abschaffen zu wollen, weil sie im Wirtschaftswald auch aufgrund der Verdrängung vieler bodendeckender Wildkräuter das verbliebene Nahrungsangebot nutzen.

Derzeit plant das Institut für Zoo- und Wildtierforschung ein Pilotprojekt auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz Lieberose bei Guben an der polnischen Grenze. Auf dem mehrere tausend Hektar großen Versuchsgelände wollen die Forscher verschiedene Huftierarten ansiedeln und untersuchen, wie sich die Vegetation mit ihnen zusammen entwickelt. Die bereits ausgestorbenen Arten werden durch Haustierrassen ersetzt, die ähnliche Ernährungsgewohnheiten haben wie etwa Auerochse und Wildpferd und damit deren Funktion übernehmen können. Außerdem hoffen die Wissenschaftler darauf, daß das Schutzgebiet auch von Elchen besiedelt wird, die aus Polen einwandern.

Die These des Berliner Instituts lautet: Die vielfältige Tiergemeinschaft wird dafür sorgen, daß kein dichter Wald dominiert, sondern lichtliebende Pflanzenarten sich ausbreiten können. Es wird eine vielfältigere, artenreichere Landschaft entstehen als in den von Menschen gepflegten Reservaten. Doch die Forscher sind keine Ökoträumer, die Mitteleuropa in einen Zustand wie vor Zehntausenden von Jahren zurückversetzen wollen. Es geht ihnen vielmehr um Erkenntnisse, wie ökologische Funktionsfähigkeit organisiert werden kann.

Sowohl die Sicherheits- als auch die Nutzungsinteressen der Menschen sollen dabei einbezogen werden. Deshalb nimmt das Institut auch Rücksicht auf die Angst der Lieberoser Bevölkerung vor Wölfen und verzichtet auf deren Ansiedlung, obwohl die scheuen Tiere für die Menschen in der Umgebung nicht gefährlich sind. Sollten allerdings Wölfe aus dem Osten einwandern, wollen die Forscher nichts dagegen unternehmen.

Wie nachhaltige Nutzung aus wissenschaftlicher Perspektive aussehen kann, versucht das Berliner Institut in mehreren Nationalparks Afrikas zu zeigen. Mit Ökoromantik hat das nichts zu tun. Ein Beispiel ist der Umgang mit den Elefanten. „Es ist eine Anmaßung von Europa und den USA, den Afrikanern vorschreiben zu wollen, wie sie mit den Elefanten umgehen sollen“, sagt Hofmann. Die Forderung nach einem totalen Jagdverbot ignoriere die Arbeit und existentiellen Interessen der Bauern, deren Felder von den Tieren zertrampelt werden. Deshalb sieht Hofmann keinen Widerspruch zum Naturschutz, wenn seine Kollegen an einer implantierbaren Pille für Elefanten arbeiten. Sie soll dafür sorgen, daß Elefantenkühe nur alle sechs oder sieben Jahre trächtig werden, anstatt alle vier Jahre ein Junges zur Welt zu bringen. „Zu viele Tiere sind in kleineren Nationalparks nicht nachhaltig. Die Alternative ist Abschuß.“