Effizient, furchtlos und illegal

Die französische Regierung hat jüngst einige Härten in der Einwanderungspolitik zurückgenommen. Dennoch bleiben Tausende von Abschiebung bedroht und ohne Aufenthaltsberechtigung: Sans Papièrs. Ihre prominenteste Aktivistin, Madjiguène Cissé, beobachtet  ■ von Dorothea Hahn

Madji ist neuerdings öfter im Fernsehen als Chirac“, bemerkt jemand. Die Angesprochene läßt sich auf einen Klappstuhl plumpsen, reißt den Mund sperrangelweit auf, und man hört ein trockenes Gemecker, das ganz leise anfängt und immer lauter wird. Ihr hagerer Körper krümmt sich. Ihr glattes Gesicht bekommt winzige Fältchen auf der Nase. Und ihr Kopf mit dem stramm zum Dutt gezogenen Haar fällt vom Nacken auf die Brust und zurück.

Madjiguène Cissé lacht mit der Wucht eines Naturereignisses. Dieses Mal bringt es zehn umsitzende Männer und eine Frau – Sans Papièrs aus Nord- und Schwarzafrika, die zu einem Treffen in Créteil bei Paris gekommen sind – zum Verstummen. Als ihre Sprecherin ausgelacht hat, sagt sie: „Ist doch logisch. Wir sind schließlich die wichtigste Nachricht dieses Sommers“, und fügt maliziös und schon wieder leise meckernd hinzu: „Außer Clinton. Aber den überbieten wir.“ Die Umsitzenden nicken zustimmend. Dem Alter nach könnten sie Kinder der 46jährigen Frau sein. Die meisten siezen sie. Madjiguène Cissé jedoch duzt alle.

Die Sans Papièrs hatten es angekündigt. Zwei Jahre nach den polizeilichen Axtschlägen, die ihre monatelange Kirchenbesetzung in Paris beendeten, wollten sie der Öffentlichkeit in diesem August zeigen, daß es sie immer noch gibt: Zigtausende EinwandererInnen, die jederzeit abgeschoben werden können.

Am Vormittag des 1. August schlüpft die Sans Papière Madjiguène Cissé hinter dem Briefträger in die Botschaft des Papstes in Paris, zusammen mit elf afrikanischen und französischen „camarades“ – GenossInnen –, wie das bei ihr heißt. In den sieben folgenden Tagen absolviert sie während der Morgenmesse ihre Gymnastik im Botschaftshof. Und weil sie dem Nuntius zugesagt hat, von seinem Sitz aus keine politischen Erklärungen abzugeben, lobt sie in Telefoninterviews die „köstlichen Spaghetti“ und die „weichen Betten“ ihres unfreiwilligen Gastgebers. Mit leisem Meckerlachen in der Stimme.

Der Coup ist ein Erfolg. Jenseits der Botschaftsmauern marschiert die Polizei auf und versammeln sich allabendlich mehr UnterstützerInnen. Nach einer Woche päpstlicher Vermittlungen bleibt der Regierung nichts anderes übrig, als die BesetzerInnen zu empfangen. Wenige Tage später lockert der Innenminister die Kriterien für die Vergabe von Aufenthaltsgenehmigungen. Und Madjiguène Cissé, die radikalste Sprecherin der Sans Papièrs, ist in aller Munde. „Als Verlobte des Papstes“, wie eine Freundin hänselt. „Jetzt völlig sündenfrei“, wie sie selbst versichert.

Kaum ist sie draußen, verkündet Madjiguène Cissé: „Der Kampf geht weiter.“ Und bereitet die nächste Aktion vor, eine Demonstration. Dafür will sie an diesem Morgen in Créteil mit ihren camarades die Aufrufe rundfaxen. Cissé ist ungeschminkt und ohne Schmuck. Sie kleidet sich strenger als viele westafrikanische Frauen: schwarze Bluse mit gebatiktem Tiermuster, brauner wadenlanger Rock, Gesundheitssandalen.

Geschäftig begrüßt sie ihre camarades mit Handschlag und einem „Ça va?“, das wie anderswo „Mahlzeit!“ klingt. Verteilt den jüngsten Erlaß des Innenministers. Sagt einem jungen Tunesier, der von der bevorstehenden Regularisierungswelle in Italien schwärmt: „Kein Grund, Frankreich zu verlassen. Wir müssen hier kämpfen.“ Nimmt eine vom Papierkrieg mit französischen Behörden verzagte Algerierin in den Arm: „Ich bin sicher, du bekommst deine Aufenthaltsgenehmigung. Und dann kochst du für uns alle ein Mechoui.“

Seit zweieinhalb Jahren scheint sie unermüdlich. Nimmt manchmal an mehreren Demonstrationen pro Tag teil. Hetzt von einer Ministeriumsbesetzung zur Blockade eines Abschiebezuges. Hört nicht auf die Verteidigerin, die ihr rät, ihrem eigenen Prozeß fernzubleiben, „um nicht im Gerichtssaal verhaftet zu werden“. Anwortet den Metro-Kontrolleuren, die wegen Schwarzfahrens Papiere wollen: „Ich habe keine.“ Und lacht. Laut, trocken – selbst dann noch, wenn die Polizei schon auf Atemkontakt herangerückt ist und um sie herum längst alles schreit.

Woher sie die Kraft nimmt? „Das ist Überzeugung, Glaube“, sagt sie. Mecker- lachend, wie immer, wenn es persönlich wird oder ihr jemand ein Kompliment macht. Ob sie sich nie schwach fühlt? Da zieht sie sich mit vor der Brust verschränkten Armen ganz tief in ihren Stuhl zurück und flüstert: „In Afrika spricht man nicht über sich selbst.“ Mehr Privatleben als die Existenz ihrer Kinder – zwei Mädchen und ein Junge zwischen zwölf und 21 Jahren – gibt sie nicht preis.

1994 reist Madjiguène mit einem Touristenvisum von Dakar nach Paris, um ihrer ältesten Tochter ein Studium in Frankreich zu ermöglichen. Sie findet es „normal“, einfach einzureisen, ohne erst um Erlaubnis zu bitten. Wegen der gemeinsamen Geschichte von einstigen Kolonien und Mutterland, wegen der gemeinsamen Sprache. Und weil sie überhaupt gegen Grenzen ist.

Knapp zwei Jahre später schließt sie sich den Sans Papièrs an, die eine Pariser Kirche besetzen. „Spontan“, betont sie, „wenn man so eine Bewegung lange plant, wird sie nichts.“ An die Stelle der Klagen französischer MenschenrechtlerInnen über die restriktiven Einwanderungsgesetze tritt nun die Militanz der Sans Papièrs. Madjiguène ist mittendrin. Genaugenommen ist sie ganz oben. Denn diese Papierlose ist eine ungewöhnliche. Nicht nur, weil sie eine Generation älter ist. Sie spricht auch fließend mehrere afrikanische Sprachen sowie Französisch und Deutsch, was sie in Dakar und Saarbrücken studiert und später im Senegal gelehrt hat.

Mit so vielen Sprachen kann sie mit allen reden – von schreibunkundigen malischen Müttern bis hin zu französischen MinisterInnen. Madjiguène Cissé kann außerdem die schwierigsten Sachverhalte der globalen Wanderungsbewegungen in einfache, packende Worte fassen. Und sie ist effizient. Mit ihrem Handy, das die Müllmänner von der Gewerkschaft CGT finanzieren, und ihrer großen schwarzen Umhängetasche, aus der sie unablässig Dossiers und Flugblätter herauskramt, ist sie eine wandelnde Pressestelle.

Nützlich ist auch ihre Vergangenheit. Als „afrikanische Feministin und Marxistin vom Stamme der Sérère“ hat sie lange Kampferfahrungen. Aus einer frühen maoistischen Oppositionsgruppe im Senegal, aus der Antiapartheidbewegung und aus Alphabetisierungskampagnen für Frauen in Afrika.

Ihren (selbstverständlich schwarzen) Job im Telefonmarketing gibt sie 1996 auf, um sich ganz der Sache der Sans Papièrs zu widmen. Die Wohnung finanziert jetzt die 21jährige Tochter, die bei Demonstrationen skandiert: „Schiebt die Kapitalisten ab, nicht die Sans Papièrs!“ Der Rest ist „Solidarität“. Aus Afrika kommen Briefe und Telefonate, die sie ermuntern weiterzumachen. Wenn Cissé Radiointerviews gibt, hört man sie auch im Senegal.

In Frankreich hingegen ist Madjiguène Cissé seit dem Regierungswechsel einsamer geworden. Als die Konservativen die Macht hatten, unterstützten linke Parteien, Gewerkschaften und Menschenrechtsvereine großzügig die Kämpferin aus Afrika. Inzwischen reden MitstreiterInnen der ersten Stunde von „Pragmatismus“ und „Kompromissen“. Und selbst ehemalige Sans Papièrs beteiligen sich daran, die „Rückführung von Papierlosen in ihre Heimatländer zu organisieren“. Der Sozialist Lionel Jospin, der Madjiguène Cissé als Oppositionschef gern empfing, läßt sie in diesem Frühjahr, als Regierungschef, von Saalordnern zum Schweigen bringen, als sie ihm bei einer Großveranstaltung das unveränderte Transparent „Papiere für alle“ entgegenhält.

Als Madjiguène Cissé zum Protest vor einem afrikanischen Konsulat ruft, das dem französischen Innenministerium bei Abschiebungen behilflich ist, findet sich nur ein Dutzend Aufrechter ein. Plötzlich hat sie den Ruf einer „Radikalen“, die nicht einmal davor zurückschreckt, Sans Papièrs mit militanten Aktionen in (Abschiebe-)Gefahr zu bringen. Ja? Und?“ lacht Madjiguène Cissé, wenn man mit ihr vom Risiko spricht, „wer in einen Krieg zieht, der kann gewinnen oder verlieren“.

Während die meisten BesetzerInnen des Jahres 1996 inzwischen vorübergehende Aufenthaltspapiere haben oder aber längst abgeschoben worden sind, ist Madjiguène Cissé immer noch ohne legalen Status. Den Gang zum Vorgesetzten, den ihr SachbearbeiterInnen ihres „Dossiers“ nahelegen, will sie nun wirklich nicht antreten: „Ich lasse mich doch nicht kleinkriegen.“

Daß sie trotz Festnahmen, Abschiebehaft und Prozessen noch in Frankreich ist, verdankt sie auch ihrer Bekanntheit. Die reicht von dem unbekannten afrikanischen Autofahrer, den sie nach dem Weg fragt und der sie respektvoll mit „Bonjour Madame Madjiguène“ grüßt und persönlich zum Ziel geleitet, bis zum Pförtner der Pariser Polizeipräfektur, der wiederum bei ihrer Ankunft mit der Hand zum Gruß an die Stirn tippt: „Madame Cissé, Sie werden erwartet.“

Madjiguène Cissé geht geschäftig an ihm vorbei, durch den Hof der Präfektur hinauf zum „Amt für Öffentliche Ordnung“, wo sie drei Chefpolizisten den Demonstrationsplan für den zweiten Jahrestag der Räumung von St. Bernard vorlegt. – „Das ist auch für uns ein Geburtstag“, versucht ein Uniformierter zu scherzen. „Ja. Die Kirchentüren, die sie mit der Axt eingeschlagen haben, sollten als historisches Monument eingestuft werden“, entgegnet sie spitz. „Neulich waren Sie ja sogar im deutschen Fernsehen“, sagt ein anderer. „Sie sind wie üblich gut informiert“, bestätigt Madjiguène Cissé trocken.

Ihr kurzes meckerndes Lachen läßt die drei Uniformierten verstummen. Sie redet umgehend weiter. Und erklärt ihren Plan für die Infostände. Schließlich ist sie nicht zum Vergnügen in der Polizeipräfektur.