Abschied von der Erwerbsarbeit

Unsere Gesellschaft befindet sich nicht in einer Krise, behauptet der französische Sozialwissenschaftler André Gorz, sondern an einer Zeitenwende, dem Beginn einer immateriellen Wirtschaft, in welcher die bisher bekannten Gesetze nicht mehr gelten. Ein Interview  ■ von Charling Tao und Thomas Schaffroth

taz: „Die Arbeit muß ihre zentrale Stellung im Bewußtsein, im Denken, in unserer aller Vorstellungswelt verlieren.“ So lautet einer der Kerngedanken Ihres neuen Buches. Das Ende der Arbeit also?

André Gorz: Ich unterscheide zwischen Arbeit und Erwerbsarbeit. Und Arbeit im anthropologischen Sinne kann nie verschwinden, solange die Menschheit existiert. Alle Gesellschaften sind auf Arbeit gegründet, auf Arbeit als Gestaltung und Aneignung der Natur durch die Tätigkeit der Menschen. Diese Definition sagt jedoch nichts über die gesellschaftlichen Beziehungen und die Produktionsverhältnisse aus. Arbeit, die man tut, hat man nicht; Arbeit die man hat, tut man immer nur für andere, die sie entlohnen und fremdbestimmen.

Aus dieser Arbeit wird aber auch der Anspruch auf sozialstaatliche Leistungen abgeleitet.

Natürlich, in der fordistischen Gesellschaft war die Arbeit auch die Quelle eines gesellschaftlichen Status und gesellschaftlicher Rechte. Der sogenannte Arbeitgeber, derjenige, der die Arbeit anderer nutzt, hatte auch immer gegenüber der Gesellschaft Verpflichtungen und der Arbeitnehmer soziale Rechte. Wohingegen wir jetzt in eine Gesellschaft übergehen, in welcher weder die Arbeit selbstangeeignet ist – Selbsttätigkeit im philosophischen Sinne – noch mit sozialen und ökonomischen Rechten verbunden ist. Das heißt, der Liberalismus, verbunden mit der Globalisierung, hat das abgebaut, was dem Kapital schon immer ein Dorn im Auge war, nämlich die Verbindung von Ausbeutung mit sozialen Verpflichtungen.

Sie sprechen nicht vom „Ende der Arbeit“ im eigentlichen Sinne, sondern vom Ende der fordistischen Arbeit.

Die gesellschaftlich geregelte und sozial eingebettete Arbeit wird systematisch vernichtet, ohne daß die durch den Abbau der Erwerbsarbeit entstehenden zeitlichen Räume von den betroffenen Menschen angeeignet werden könnten. Und hier müssen wir auch die Auffassung der Utopie, die Marx von Hegel übernommen hat, wieder aufnehmen, nämlich daß früher oder später Arbeit in freie Selbsttätigkeit aufgehoben werden muß.

Wie schnell wird das gehen?

Heute ist Wissen die wichtigste Produktivkraft. Das Lohnarbeitsvolumen schrumpft immer schneller zusammen, Erwerbsarbeit wird immer diskontinuierlicher, prekärer. Das Ausmaß dieses Wandels ist kaum begriffen worden. In England sind beispielsweise heute schon 55 Prozent der ArbeitnehmerInnen in prekären, nicht gesicherten Arbeitsstellen, ohne Verträge, auf Abruf. In Italien, Deutschland und Frankreich ist der Anteil dieses prekären Arbeitsmarktes praktisch gleich hoch.

In Frankreich hat eine im vergangenen Oktober veröffentlichte staatliche Studie ergeben, daß bei den 25- bis 39jährigen in den letzten Jahren 55 Prozent eine oder mehrere Perioden von Arbeitslosigkeit erlebt haben. Bei den Leuten mit Hochschulabschluß waren es 39 Prozent, was unter anderem auch zeigt, daß alle Schichten, also auch Hochqualifizierte, von diesem Problem betroffen sind.

Was bedeutet das für die geringer Qualifizierten?

Wenn auch gut qualifizierte Arbeitskräfte beginnen, McJobs auszuüben, wird der Druck auf die Schwachqualifizierten noch größer. Großbetriebe beschäftigen immer weniger Leute. In den USA arbeiten in den hundert größten Konzernen des Landes nur noch zehn Prozent der Festangestellten. Das heißt unter anderem, immer weniger Leute produzieren immer mehr Reichtum.

Das Gegenrezept der Gewerkschaften lautet stets Arbeitszeitreduzierung. Kann das noch helfen?

Wenn Sie die 32-Stunden-Woche oder 35-Stunden-Woche fordern, ohne die Bedingungen solcher Arbeitszeitverkürzungen festzulegen, so ist eine solche Reform sinnlos. Zumal sich heute schon fünfzig Prozent und mehr Arbeitskräfte in ungesicherter oder nicht selbstgewählter Teilzeitarbeit befinden.

Arbeitszeitreduktion kann nur im staatlichen Sektor und allenfalls in Großbetrieben kontrolliert werden.

Es ist richtig, daß der Staat gesetzlich eine maximale Arbeitszeit festlegen muß, die Gültigkeit hat für alle Menschen, die zu einem Tariflohn arbeiten, sei dies nun in der Staats- oder in der Privatwirtschaft. Aber das genügt nicht.

Wenn man eine Arbeitszeitverkürzung anstrebt, dann sollte diese nicht nur auf die Woche berechnet werden. Sie muß auch eine soziale Absicherung garantieren, für diejenigen, die diskontinuierlich, temporär oder in Teilzeit arbeiten. Ein Grundeinkommen muß für alle garantiert sein, die sich für Arbeit zur Verfügung stellen, ob sie die nun finden oder nicht.

Sie sagen, Befreiung in der Lohnarbeit gibt es nicht, bloß Befreiung von der Lohnarbeit.

Im Rahmen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung in der Lohnarbeit gibt es nur Autonomie eingebettet in die Heteronomie. Selbst in der Stückarbeit einer fordistischen Arbeitsteilung, die in hohem Grade chronometrisiert ist, bilden sich Freiräume, die aber auch erkämpft werden müssen. Das ist aber auch schon der ganze Autonomieraum. Ansonsten ist die Arbeitszeit Rentabilitätskriterien unterworfen, gegen die Sie nichts unternehmen, die Sie weder gestalten, noch sich aneignen können, die also vom Kapital fremdbestimmt bleiben. Sogar in einem – sagen wir mal humanisierten – fordistischen Betrieb wie Volvo bestimmen Arbeiter und Arbeiterin weder das Produkt, das sie zusammensetzen, noch die Kriterien der gesellschaftlichen Nützlichkeit ihres Produktes.

Was hat das für eine Folge für die Bezahlung?

Wir kommen früher oder später in die Situation, in welcher das Volumen der Zahlungsmittel nicht mehr den heutigen Kriterien von Angebot und Nachfrage unterliegen kann und darf, sondern wo die Gesellschaft Zahlungsmittel in Umlauf setzt, um die von ihr gewählte und bevorzugte Produktion von Nutzwerten verteilen zu können.

Gibt es Ihrer Meinung nach heute einen gesamtkapitalistischen Plan, nach dem sich die Wirtschaft abspielt?

Ja, sicher. Überall bedient sich das Kapital des von ihm selbst verschärften Konkurrenzkampfes der Konzerne, um vom Staat zu verlangen, daß er seine Sozialpolitik abbaut, Märkte und Arbeitsbedingungen dereguliert, sich der Herrschaft der reinen Marktgesetze unterwirft. Die anonymen, rein statistischen Gesetze des Marktes dienen dazu, das Kapital gegen die Gesetze des Staates zu schützen. Wie der Chef der Deutschen Bundesbank, Hans Tietmeyer, sagt: „Die Staaten werden von den Finanzmärkten überwacht und können ruiniert werden, wenn ihre Politik letzteren nicht gefällt.“

Ist das garantierte, bedingungslose Grundeinkommen, das Sie fordern, eine geeignete Gegenstrategie?

Ich glaube, daß es keine sinnvolle Gegenstrategie geben kann, wenn wir uns nicht zum Ziel setzen, aus der Erwerbsarbeitsgesellschaft auszutreten und uns eine Gesellschaft der wiederangeeigneten Arbeit einrichten. Wir müssen davon ausgehen, daß es immer weniger bezahlte Arbeit geben wird. Und daß über kurz oder lang sich die ewige Frage dramatisch stellen wird: Wie verkauft man Produkte, für welche es keine Kaufkraft mehr gibt? Woher soll die Nachfrage kommen, wenn für die Schaffung von Reichtum immer weniger Lohn an immer weniger Menschen ausgeschüttet wird?

Welche Rolle kommt da Ihrem Grundeinkommen zu?

In dieser Perspektive hat das garantierte Grundeinkommen einen Sinn: Es ist eine potentiell immer schärfer werdende Waffe für die Überwindung des Kapitalismus und den Austritt aus einer auf der Kapitalverwertung fußenden Gesellschaft. Ein garantiertes, bedingungsloses Grundeinkommen allein ist allerdings keine Lösung für die wirtschaftlich-sozialen Probleme der Menschheit. Wie hoch dieses Minimaleinkommen auch sein wird, es ist bloß die wichtigste Quelle des Anteils eines jeden, einer jeden, am gesellschaftlich produzierten Reichtum. Aber das ist nicht alles! Der wichtigste Reichtum ist immer der kulturelle, nicht vergeldlichte, nicht(ver)käufliche Reichtum an menschlichen Fähigkeiten und zwischenmenschlichen Beziehungen.

Ein solch garantiertes Minimaleinkommen läßt sich heute wohl weder politisch noch finanziell verwirklichen.

Ein ausreichendes, universales Grundeinkommen ist heute schon allein aus dem Grund nicht möglich, weil die Großbetriebe, die den hauptsächlichen Profit erwirtschaften, praktisch keine Steuern mehr zahlen, und wenn, dann dort, wo sie am niedrigsten sind. Natürlich weiß ich, daß man nicht schlagartig von der jetzigen Situation zu einem universalen, bedingungslosen, ausreichenden Sozialeinkommen übergehen kann. Interessant scheint mir diesbezüglich das Modell, das heute bereits in den Niederlanden angewendet wird. Dort leisten 37 Prozent der werktätigen Bevölkerung Teilzeitarbeit. Und von den 37 Prozent arbeitet ein Drittel weniger als dreizehn Stunden in der Woche. Doch alle haben ein Anrecht auf den tariflichen Grundlohn. Alle Formen von Teilzeitarbeit sind übrigens individuell und kollektiv verhandelbar, rechtlich geschützt, anerkannt und dürfen keine Diskriminierung zur Folge haben.

Wie also den Reichtum gerechter verteilen? Sie fordern etwa „weniger Staat“, was einen Wirtschaftsredakteur von Le Monde dazu bewog, Sie als einen „verkappten Liberalen“ zu bezeichnen.

So weit sind wir natürlich noch nicht, daß wir den Staat abschaffen könnten. Für die Einführung aller Reformen braucht es zunächst staatliche Institutionalisierung. Und hier möchte ich zum ausreichenden, universalen Grundeinkommen zurückkommen. Dringend ist heute, das Anrecht auf die für Selbsttätigkeit freigesetzte Zeit mit einer ausreichenden materiellen Grundsicherung zu verbinden. In Dänemark ist diese Forderung ansatzweise verwirklicht. Die Werktätigen haben Anrecht auf ein Jahr Urlaub mit der Garantie von 72 Prozent des Tariflohnes. Und der deutsche Soziologe Klaus Offe schlägt etwa vor, während der gesamten Lebensarbeitszeit allen Menschen zehn garantierte und bezahlte Urlaubsjahre zu ermöglichen.

Klingt hierzulande noch utopisch.

Wir müssen zuerst einmal anerkennen, daß die Zukunft nicht im gesicherten, dauerhaften, vollzeitigen Lohnarbeitsplatz liegt, sondern in der Wechselbeziehung von immer kürzeren Perioden bezahlter Arbeit und immer längeren Perioden freier Selbsttätigkeit. Daß also die gesellschaftliche Geltung und Anerkennung von der Lohnarbeit auf die Selbsttätigkeiten verlagert werden muß.

Humankapital – das heißt Ideenreichtum, Kreativität, Lernfähigkeit – ist heute im Verwertungsprozeß wichtiger als Sachkapital. Unmittelbare Arbeit, wie sie Marx nannte, ist nur noch ein – immer kleinerer – Bruchteil derjenigen Zeit, die zur Produktion und Reproduktion von Arbeitskraft benötigt wird. Autonomiefähigkeit der Menschen soll unter anderem darin bestehen, sich ständig Wissen anzueignen.

Sie betonen, daß wir gewissermaßen aus der Arbeitsgesellschaft hinausfallen, ohne daß es für dieses absterbende Gesellschaftsmodell ein neues geben würde.

Selbst von unmittelbarer Arbeit freigesetzte Zeit ist letztlich produktiv. So gibt es beispielsweise schon heute High-Tech- Betriebe, die verlangen, daß ihre Angestellten auf Urlaub gehen und sich mit anderen Materien befassen als der Produktivität ihres Betriebes, etwa mit Philosophie, Tanz, Musik. Kreativität ist von der Betriebsleitung erwünscht, weil sie eingesehen hat, daß die Belegschaft stumpf wird, daß ihre kreative Phantasie erlischt, wenn sie die Zeit nicht als kreative Menschen frei verwenden kann.

Das heißt für unser Wirtschaftssystem?

Immer weniger Leute produzieren immer mehr Reichtum. Doch es stellt sich auch die Frage der Kaufkraft, des Absatzes. Das ist eigentlich etwas Positives. Denn das heißt, daß die auf Tauschwert begründete Produktion zusammenbricht. Das Kapital ist nicht mehr in der Lage, den Absatz seiner Produktion zu bezahlen. Wir kommen früher oder später in die Situation, in welcher das Volumen der Zahlungsmittel nicht mehr den heutigen Kriterien von Angebot und Nachfrage unterliegt, sondern wo die Gesellschaft, der Staat, Zahlungsmittel in Umlauf setzt, um die von ihm gewählte und bevorzugte Produktion von Nutzwerten verteilen zu können.

„Der Reichtum des Möglichen“ besteht Ihrer Meinung nach unter anderem darin, daß die Arbeitsgesellschaft in eine Kulturgesellschaft mutiert, ökonomisch basierend auf Selbstversorgung, auf Kooperationsringe. Wollen Sie zur Tauschwirtschaft zurückkehren?

Es ist klar, daß die Freisetzung von Zeit zur Entwicklung von Beziehungen führen soll, die auf Gegenseitigkeit beruhen, und daß Geld- und Warenbeziehungen damit teilweise ersetzt werden. Zudem kann man öffentliche Einrichtungen derart ausstatten, daß sich alles Mögliche an Selbsttätigkeit, Selbstversorgung und gegenseitiger Hilfe entwickeln kann.

Was versprechen Sie sich davon?

Selbstverwaltung, Kooperationsringe zeigen eine sinnhafte Richtung auf, in welche sich eine solidarische Wirtschaft entwickeln kann. Nirgendwo ist geschrieben, daß eine Arbeit nur dazu dienen soll, einem Arbeitgeber verkauft zu werden, der sie sich aneignet.

Wie wär's, wenn alle Leute nur sechs Monate arbeiten und sechs Monate das tun würden, wovon sie immer geträumt haben? Der moderne Kapitalismus hat zur Enteignung der Arbeit und zum radikalen Monopol des Kapitals über die Arbeitsmittel geführt. Wie kann man das Monopol brechen? Nur, indem wir uns die Arbeitsmittel wieder aneignen.

Doch wie ist es möglich, den Kapitalismus zu überwinden, wenn man vom Kapital völlig ausgeschlossen ist, sei es durch Arbeitslosigkeit, sei es durch Formen der Selbstverwaltung? Der Traum der Leute, eine feste Lohnarbeit zu haben, ist tief verwurzelt.

Das ist die Meinung. So sollen wir denken! Ich will eine Arbeit, und wenn es eine Dreckarbeit ist! Ich halte diese Ansicht für falsch. Propaganda. Denn womit können Sie die Macht des Kapitals über die Menschen am besten stärken und verteidigen? Indem die Kapitaleigner glauben machen, daß es kein anderes Leben gibt als ein mit Lohnarbeit ausgefülltes.

Und die Politik?

Die schlechteste aller Politiken, die heute gemacht werden kann, ist, bei den Leuten Erwartungen auf Vollbeschäftigung zu pflegen. Erwartungen, die nicht aufhören, enttäuscht zu werden.

So hindert man die Menschen daran, die Natur und die Grundsätzlichkeit der Veränderungen, in welchen wir voll drinstecken, wahrzunehmen, in den Griff zu bekommen. Sie werden in dem Glauben gehalten, niemand könne etwas gegen die Allmacht des Marktes und des Kapitals unternehmen, außer vielleicht eine Diktatur.

Natürlich, Sie können mir vorwerfen, daß nichts beweist, daß die Vollbeschäftigung nicht wieder zurückkehrt und daß es bloß ein Zeichen von Fatalismus ist, auf diese Hoffnung zu verzichten. Doch die herrschende Meinung will nicht wahrnehmen, nicht akzeptieren, daß wir uns nicht einfach in einer Krise befinden, sondern in einer Mutation, einer Zeitwende. Nicht in einer neuen industriellen Revolution, sondern im l'avènement de l'économie de l'immateriel, im Beginn einer immateriellen Wirtschaft, in welcher die bisher bekannten Gesetze nicht mehr gelten.

Es kommt demnach zu dem, wie Sie sagen, „Exodus“ aus der Lohnarbeit, aus dem Kapitalismus?

Ja. Wir müssen uns geistig von der fixen Idee befreien, daß es jenseits der Arbeit keine Gesellschaft gebe. In einer kürzlich veröffentlichten Untersuchung der Universität München kommen fünfzig Prozent der befragten Bürgerinnen und Bürger zum Schluß, daß diskontinuierliche Arbeit einer normalen Arbeitssituation entspricht und für ihre persönliche Entwicklungsmöglichkeit einen wichtigen Wert einzunehmen beginnt. Und bloß fünfzig Prozent betrachten heute eine feste Arbeitsstelle als Normalität.

Die Diskontinuität der Arbeit als Normalzustand.

Wir müssen uns ein für allemal von der fixen Idee trennen, die Gesellschaft sei eine Ordnung, in welcher jedes Subjekt seinen zugeordneten und vorgesehenen Platz haben soll. Die Gesellschaft der Lohnarbeit ist nicht das höchste Entwicklungsstadium der Menschheit, die Lohnarbeit ist nicht einfach die höchste Form der Produktion, der sozialen Beziehungen. Die Beschäftigung ist kein Ziel an sich. So gesehen kann die Diskontinuität der Berufsarbeit für alle zu einer Quelle eines äußerst reichen, kreativen und freien Lebens werden. Unter der Bedingung, daß die Arbeitsperioden und die Nicht-Arbeitsperioden sowohl individuell gewählt als auch kollektiv ausgehandelt werden können, selbstverwaltet, ausgedehnt auf die Woche, auf den Monat, auf das Jahr und so weiter. Und daß während der Perioden der Nicht-Arbeitszeit allen bedingungslos ein ausreichendes Einkommen garantiert wird. Ich betone: bedingungslos. Denn wenn festgehalten wird, daß während der Nicht-Arbeitszeit die Leute diese Zeit verwenden müssen, um zu studieren, um ihre Kinder aufzuziehen, Sport zu betreiben oder einer politischen Aktivität nachzugehen, wird diese Periode praktisch wieder in Beschäftigung verwandelt, einer institutionellen, administrativen Kontrolle unterworfen. Wir reproduzieren so wieder die Lohnarbeit in bloß anderer Form.

Sie setzen große Hoffnungen auf die europäische Einigung, in gesellschaftlich- politischer und wirtschaftlicher Hinsicht. Gewissermaßen als Gegenkraft zur Globalisierung des Finanzkapitals?

Normalerweise hat die größte Handelsmacht der Welt auch die Macht, die Regeln für den Welthandel festzusetzen. Und die größte Handelsmacht der Welt ist bei weitem die Europäische Gemeinschaft. Wenn sie den politischen Willen dazu hätte, den Welthandel in öko-soziale Regeln einzubetten, anstelle dem von den USA oktroyierten Freihandel ausgeliefert zu sein. Das setzt allerdings einen gemeinsamen politischen Willen voraus, den es bisher nicht gibt. Den es vielleicht geben wird, wenn in Bonn auf Kohl eine rot- grüne Regierung folgen und den Konzernen eine andere Politik auferlegt wird, als heute im Rahmen der Globalisierung gilt.

Wer kämpft dann gegen wen?

Das globalisierte heimatlose Finanzkapital gegen die Geburt eines supranationalen europäischen Staates. Bisher ist es den sogenannten Finanzmärkten, also dem Finanzkapital, gelungen, die Nationalstaaten weitgehend zu entmachten und unter Berufung auf die sogenannten Marktgesetze seinem Diktat zu unterwerfen. Tagtäglich werden rund 1.400 Milliarden Dollar auf Devisenmärkten gewechselt. Nur vier Prozent entsprechen der Abrechnung von Waren- und Dienstleistungsumschlag. Die Wirtschaft wird in den Dienst inhalts- und substanzloser Geldvermehrung gestellt. Der Rest ist rein spekulativ. Sie wird der demokratischen Gestaltungsmacht der Gesellschaft entzogen. Die Macht des Geldes, der Finanzmärkte erhebt sich über die gesellschaftspolitische Macht des Staates und ersetzt den Gesetzgeber durch die sogenannten Marktgesetze, die von niemandem verantwortet werden und für deren Auswirkungen niemand zur Rechenschaft gezogen werden kann. Das ist die gegenwärtige Lage.

Und der Ausweg aus dieser Situation heißt EU?

Aus ihr gibt es keinen nationalen Ausweg. Wohl aber einen supranationalen. Ein supranationales Staatengebilde von der Größe der EU könnte den Vorrang der Politik, die demokratisch kontrollierbare gesellschafts- und wirtschaftspolitische Handlungsfähigkeit für seine Mitgliedsstaaten wiederherstellen. Nach Einführung des Euro ließen sich spekulative Devisentransaktionen durch eine minimale Steuer – die sogenannte Tobinsteuer – weitgehend drosseln. All das wünschen die Finanzmärkte natürlich nicht.

Was heißt das für Deutschland?

Heute ist in Deutschland nicht einmal mehr die Grundschule, geschweige denn die Universität finanzierbar. Die Großbetriebe bezahlen kaum mehr Steuern und reduzieren gleichzeitig die Lohnmasse. Folglich kann bloß eine andere Logik etwas bringen: eine plurale Wirtschaft, in der die Herrschaft des Kapitals und seines Verwertungszwangs überwunden wird.

André Gorz: Arbeit zwischen Elend und Utopie; Suhrkamp, 200 Seiten, 34 Mark, erscheint im September