Auf Leben und Tod

Sterben ist schon lange nicht mehr reines Schicksal. Künstliche Beatmung und Ernährung können den Tod um Monate, vielleicht Jahre hinausschieben. Über zwei Drittel der Deutschen sind jedoch dagegen, Todkranke künstlich am Leben zu erhalten. Dennoch ist in Deutschland, anders als in den Niederlanden, Sterbehilfe bisher verboten. Die Debatte darüber, dem Tod nachzuhelfen, ist in vollem Gang. Ein Dossier  ■ von Irene Meichsner

Friede, Würde – das sind die Worte, die zumeist in Todesanzeigen zu lesen sind. Doch „schön“ ist das Lebensende selten. Die meisten Menschen sterben in Krankenhäusern und Pflegeheimen. Viele sind einsam, haben Schmerzen, oder sie haben das Bewußtsein bereits verloren, werden nur durch künstliche Ernährung oder Beatmung am Leben gehalten.

Solch anscheinend sinnloses Leiden mit anzusehen drängt die Frage auf, ob es nicht humaner wäre, das Sterben zu beschleunigen. In Umfragen sprachen sich mehr als zwei Drittel aller Deutschen gegen eine künstliche Lebensverlängerung bei Todkranken aus. Die Nachfrage nach „Patiententestamenten“ und „Betreuungsverfügungen“, mit denen die Unterzeichner für den Fall vorsorgen wollen, daß sie über den eventuellen Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen selbst nicht mehr entscheiden können, wächst.

Fast die Hälfte befürwortet in Umfragen sogar eine Freigabe „aktiver Sterbehilfe“, wie sie in den Niederlanden möglich ist. Sollte Sterbehilfe vom strengen Tötungsverbot ausgenommen werden, wie es auch hier Initiativen fordern? Welche Bedingungen wären an eine Lockerung zu knüpfen? Wie weit sollte sie gehen? Wann kann von einer in freier Verantwortung getroffenen Entscheidung, sterben zu wollen, überhaupt gesprochen werden?

Sehr persönliche Fragen, die daher auch innerhalb der Parteien unterschiedlich beantwortet werden. Die Bundesärztekammer lehnt in ihren heftig diskutierten Entwürfen von neuen „Richtlinien zur ärztlichen Sterbebegleitung“ zwar weiterhin jede Form der gezielten Lebensverkürzung ab, hält aber zugleich fest, daß in bestimmten Situationen auch eine „Begrenzung“ der Behandlung geboten sein könne. Dabei kann kaum ein Zweifel bestehen, daß viele Ärzte in Deutschland bereit wären, Sterbehilfe zu leisten, und daß sie im stillen auch praktiziert wird.

In anonymen Umfragen in England, Kanada, Australien und den USA billigten 34 bis 59 Prozent der befragten Ärzte eine „Tötung auf Verlangen“. Zwischen 28 und 50 Prozent erklärten sich bereit, sie durchzuführen, bis zu einem Viertel hatte selbst schon Euthanasie vorgenommen. Unter kalifornischen Aids-Medizinern gaben sogar 53 Prozent an, schon mindestens einmal der Bitte um Verschreibung einer tödlichen Menge Betäubungsmittel entsprochen zu haben. Für die wenigsten Patienten waren – anders als weithin angenommen – starke Schmerzen der Grund, Hilfe beim Sterben zu erbitten: Sehr viel größer ist offenbar die Angst, im Endstadium einer Krankheit die eigene Würde zu verlieren, Angehörigen zur Last zu fallen und von anderen abhängig zu sein.

Erst im November 1997 stimmten im US-Bundesstaat Oregon bei einem Volksentscheid sechzig Prozent der Wähler für ein Gesetz, das Ärzten bei schwerkranken Patienten ohne Heilungschancen eine Beihilfe zum Selbstmord erlaubt. Im australischen Bundesland Northern Territory konnten Sterbewillige ihrem Leben zeitweise „auf Knopfdruck“ ein Ende machen. Ein Computer stellte sie vor folgende Alternative: „Wenn Sie „Ja“ drücken, erhalten Sie innerhalb der nächsten 30 Sekunden eine tödliche Injektion, und Sie werden sterben. Wollen Sie weitermachen? Ja/Nein.“ Wurde die Ja-Taste gedrückt, wurde der Bildschirm für einige Sekunden schwarz, bevor die Bestätigung (“Exit“) erschien und sich eine Giftpumpe mit einer tödlichen Dosis von Barbituraten in Bewegung setzte. Vier Krebskranke schieden auf diese Weise aus dem Leben, bevor ein entsprechendes Gesetz im März 1997 vom australischen Oberhaus mit knapper Mehrheit vorerst wieder außer Kraft gesetzt wurde.

In Deutschland ist nach wie vor jede Form des Tötens verboten. Mord wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft, Totschlag mit Gefängnis nicht unter fünf Jahren. Tötet jemand einen anderen aus Mitleid oder auf dessen Wunsch, ist nur das Strafmaß geringer. Beihilfe zum Selbstmord wird zwar nicht verfolgt, weil sich der Suizident selber nicht strafbar macht und darum auch derjenige nicht bestraft werden kann, der ihm die Mittel dafür zur Verfügung stellt. Aber man macht sich – scheinbar paradox – immer noch unterlassener Hilfeleistung schuldig, wenn man anschließend das Leben des Selbstmörders nicht wieder zu retten versucht.

Die Idee der Sterbehilfe ist sehr viel älter, als viele vermuten: Sie ist keineswegs nur, wie oft behauptet und manchmal bewußt suggeriert wird, eine Antwort auf die Möglichkeiten moderner Apparatemedizin, der manche inzwischen – weit entfernt von der Realität – fast beliebige Fähigkeiten zutrauen, das Lebensende hinauszuschieben. In Deutschland reicht die Diskussion um „Euthanasie“ bis weit ins 19. Jahrhundert zurück, wobei man darunter nicht die Beschleunigung, sondern Beistand beim Sterben verstand. Seit der Jahrhundertwende kam die Vorstellung von „aktiver Sterbehilfe“ hinzu, bereits 1913 bis 1917 wurde ein Gesetzentwurf diskutiert, der eine Tötung auf Verlangen legalisieren sollte, wenn der unheilbar kranke, schwer leidende Patient ausdrücklich darum bittet.

Eine Mehrheit fand sich dafür allerdings ebensowenig wie für den „Alternativentwurf eines Gesetzes über Sterbehilfe“, mit dem renommierte deutsche Strafrechts- und Medizinprofessoren Mitte der achtziger Jahre mehr Rechtssicherheit schaffen wollten. Als eigener Tatbestand ist „Sterbehilfe“ weiterhin nicht vorgesehen. Eine ausdrückliche Freigabe wäre gegenwärtig auch kaum denkbar – zumal vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, bei der über 70.000 Insassen von Heil- und Pflegeanstalten unter dem Vorwand von „Leidensminderung“, „Erlösung“, „Gnadentod“ oder „Sterbehilfe“ gezielt mit Kohlenmonoxid vergast und unzählige andere durch „wilde Euthanasie“ von einzelnen Ärzten und Pflegern ermordet wurden.

Das Fehlen spezieller Gesetze bedeutet aber keineswegs, daß nicht auch in Deutschland längst über konkrete Fälle geurteilt würde, die sich im Grenzbereich zwischen gemeinem Mord, Totschlag, Tötung auf Verlangen, unterlassener Hilfeleistung, Beihilfe zum Selbstmord und „Sterbehilfe“ bewegen. Bislang wurden dabei persönliche Freiheitsrechte respektiert und fundamentale Rechtsgüter sorgfältig gegeneinander abgewogen – für viele ein Argument, es bei solchen individuellen Entscheidungen zu belassen, um nicht durch gesetzliche Regelungen neue Zwänge und Mißbrauchsmöglichkeiten zu erzeugen.

Sogenannte passive Sterbehilfe ist ohnehin schon zulässig, sei es, daß in hoffnungslosen Fällen auf eine offenkundig sinnlose Intensivbehandlung verzichtet, sei es, daß eine neue Komplikation gar nicht mehr behandelt wird. Höchstrichterlich entschieden und im Grundgesetz verankert ist auch, daß jeder urteilsfähige Mensch selbst bestimmen kann, ob er eine ärztliche Behandlung wünscht oder ob er sie ablehnt, selbst wenn er deswegen stirbt. Die weitaus schwierigere Frage, ob auch ein früher geäußerter Wille verpflichtet, wenn der Patient seine aktuelle Lage selbst gar nicht mehr überblickt, stellte sich dem Bundesgerichtshof (BGH) erstmals im September 1994.

Er argumentierte damals schon ähnlich wie kürzlich das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt in seinem aufsehenerregenden Beschluß zum Schicksal einer 85jährigen Frau, die seit Ende letzten Jahres nach einem Schlaganfall im Koma liegt. Zwei ärztliche Gutachten bescheinigten ihr übereinstimmend eine so anhaltende Hirnschädigung, daß „eine relevante Besserung nicht mehr zu erwarten“ sei. Die 62jährige Tochter, zugleich ihre Betreuerin, beantragte daraufhin beim Vormundschaftsgericht, dem Abbruch der künstlichen Ernährung zuzustimmen. Sie berief sich dabei auf die Worte ihrer Mutter, die vor einigen Jahren nach dem Tod ihres Ehemanns geäußert habe, daß sie persönlich jedenfalls „kein langes Sterben haben möchte“.

Die ersten beiden Instanzen lehnten den (wegen des Medienrummels inzwischen wieder zurückgezogenen) Antrag ab. Das OLG erkannte ihn insoweit an, als es eine tatsächliche Überprüfung der „mutmaßlichen“ Einwilligung dieser Frau für notwendig erachtete und gegebenenfalls auch einen Behandlungsabbruch für möglich hielt. Wurde damit in der Grauzone zwischen Leben und Sterben „eine neue Tür aufgerissen“, wie Karl Lehmann, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, befürchtete? Wurden Richter, wie es im Eifer der Empörung hieß, sogar als „Herren über Leben und Tod“ inthronisiert, weil es immerhin in Sterbehilfe münden könnte, wenn ein Vormundschaftsrichter zu der Überzeugung käme, daß ein entscheidungsunfähiger Patient „mutmaßlich“ damit einverstanden wäre? Oder ist es sogar ein „Gewinn an Sicherheit“ für den einzelnen, wenn über solche Fragen in Anbetracht der weitreichenden Mißbrauchsmöglichkeiten (man denke an Erbschleicherei) jedenfalls nicht Ärzte und Angehörige, sondern neutrale Gerichte entscheiden, wie der Frankfurter Theologe und Medizinethiker Kurt W. Schmidt und der Münchner Strafrechtler Torsten Verrel in einer gemeinsamen Stellungnahme meinten?

Bislang hat noch kein deutsches Gericht über einen solchen Fall entschieden. Insofern wird sich erst zeigen, inwieweit einzelne Richter auch den „strengen Anforderungen“ gehorchen, die das OLG, ebenso wie vorher der BGH, unmißverständlich an sie stellt: In allen Zweifelsfällen, in denen sich eine „mutmaßliche Einwilligung“ nicht ermitteln lasse, sei grundsätzlich dem „Lebensschutz der Vorrang einzuräumen“, also ein Behandlungsabbruch kategorisch zu verbieten.

Von einer förmlichen Entkriminalisierung der Sterbehilfe ist das OLG damit weit entfernt. Der Frankfurter Vormundschaftsrichter Axel Bauer mahnt, daß sich ein Kranker, der „früher gesagt oder geschrieben hat, kein langes Sterben ertragen zu wollen“, plötzlich „anders besonnen“ haben könne. Man müsse sich, sagt er, schon „viel Zeit“ nehmen und „große Ruhe“ aufbringen, um dessen mutmaßlichen Willen im Gespräch mit dem behandelnden Arzt in der Klinik, dem Hausarzt, den Pflegekräften, den Angehörigen, vielleicht auch dem Pfarrer zu ergründen. Bauer weiß, auf welch schmalem Grat er sich bewegt: Er richtet sich bereits darauf ein, daß er zunehmend mit dubiosen Anträgen auf Behandlungsabbruch konfrontiert werden wird, in denen „selbsternannte Sterbehelfer auftreten, die angeblich wissen, was der Betroffene will – aus höchst eigensüchtigen Motiven“.

Dazu könnten eines Tages auch die Kosten medizinischer Behandlung gehören, die zunehmend ins Blickfeld rücken, während der Anteil alter und pflegebedürftiger Menschen steigt. Erst unlängst versuchten amerikanische Medizinstatistiker den finanziellen Gewinn zu beziffern, der mit einer Legalisierung ärztlich unterstützten Selbstmords verbunden wäre. Sogar Mediziner, die bis vor kurzem noch für eine Erleichterung ärztlicher Beihilfe zur Selbsttötung plädierten, sind davon wieder abgerückt, weil sie fürchten, daß sie benutzt werden könnte, um Kosten einzusparen: Indirekt könnten Menschen sogar zum Selbstmord gedrängt werden.

Insbesondere die Angehörigen von Wachkoma-Patienten fürchten, daß Behandlungsabbrüche irgendwann mit den extrem hohen Behandlungskosten begründet werden. Abgelehnt wird Sterbehilfe nicht zuletzt von der Hospiz-Bewegung, die schwerkranken und sterbenden Menschen mit Zuspruch, Pflege und Schmerzlinderung beisteht. Die Deutsche Hospiz-Stiftung warnte erst kürzlich wieder vor der „inflationären Verbreitung“ teils nur noch formularähnlicher Patiententestamente, die mehr oder weniger floskelhaft einen „Tod in Würde“ beschwören. Ginge es korrekt zu, müßten die Unterzeichner über die möglichen Folgen so „wahrheitsgemäß“ aufgeklärt werden, wie es die Bundesärztekammer für den Umgang mit Sterbenden verlangt.

Denn auch der vorzeitige Abbruch einer Behandlung garantiert keinen qualfreien oder gar „schönen“ Tod. Das Beatmungsgerät abzuschalten heißt, einen Menschen ersticken zu lassen. Abbruch der künstlichen Ernährung bedeutet, daß der Patient verhungern wird – und das kann sich über Wochen und Monate hinziehen.

Irene Meichsner, 46 Jahre, arbeitet als freie Wissenschaftsjournalistin in Köln. Für die taz schreibt sie seit zehn Jahren.