Faster, Staatsanwalt! Kill, kill!

Als Jurist außer Dienst, als Charakterdarsteller immer im Einsatz: der Kultur-Aktivist Dietrich Kuhlbrodt  ■ Von Malte Hagener

Ruhestand nennt man gemeinhin die Zeit nach der Pensionierung, in der man Rosen im Garten pflegt, sich die Sonne vor seinem kleinen Häuschen auf den Bauch scheinen läßt oder auf andere Art nichts mit der Zeit anzufangen weiß, die plötzlich zur Verfügung steht. Von Langeweile, Ruhe oder Stillstand kann bei Dietrich Kuhlbrodt – nach über 30 Jahren Berufsausübung seit einiger Zeit Oberstaatsanwalt in Rente – keine Rede sein, so ungebremst ist sein Schaffensdrang: Nach wie vor ist er als Filmkritiker, Schauspieler und Politaktivist höchst produktiv und präsent.

Dabei wäre die Filmkritik fast sein Brotberuf geworden, als er nämlich Anfang der 60er vor der Wahl stand, Filmredakteur beim Spiegel zu werden – in der Zeitschrift Filmkritik hatte er sich zuvor als Autor einen Namen gemacht – oder in den Staatsdienst einzutreten. Ein Spiegel-Redakteur riet Kuhlbrodt eine Justizkarriere an: Beim Spiegel könne man seinen Namen nicht unter die Artikel setzen, wenn sie denn überhaupt abgedruckt würden, und kein Wort bleibe beim anderen, es sei einfach furchtbar. Über Filme schreiben könne man schließlich auch nebenbei, und der Wechsel vom Spiegel in den Staatsdienst sei ausgeschlossen – damals galt das Magazin noch als staatsfeindliches Organ. In umgekehrte Richtung hingegen sei er mit all seinem Insiderwissen natürlich immer willkommen. So fiel dann die Entscheidung, die er bis heute nicht bereut hat. Und doch sagt er: „Meine erste Filmkritik schrieb ich 1957, und ich schreibe noch immer. Staatsanwalt war ich 30 Jahre, vielleicht war die Justiz doch nur ein Zwischenspiel.“

Keineswegs ließ sich der Jurist jedoch auf eine ruhige Stelle ein, um Zeit für seine Filmkritiken zu haben. Er verbrachte 20 Jahre auf der Jagd nach Nazis in der Zentralstelle Ludwigsburg, die für die Einleitung von Ermittlungsverfahren gegen Naziverbrecher zuständig war. „Nazis habe ich immer mit aller Kraft verfolgt, bei Schwarzfahrern mangelte es mir an innerer Überzeugung.“

Daß dann – aufgrund seines preußischen Äußeren meist als fiese Autorität gecastet, perfiderweise häufig als Ober-Nazi – auch noch eine Schauspiel-Karriere dazukam, lag an den Kontakten zur Filmszene. Die aufregendste Rolle hatte er in Lars von Triers Europa, als er für Matthieu Carrière einsprang und neben Stars wie Barbara Sukowa und Jean-Marc Barr als Schlafwagenschaffnerausbilder auftrat. Die meisten Filme hat er jedoch mit Christoph Schlingensief gemacht: von Menu Total über Das deutsche Kettensägenmassaker – die Szene, in der er mit einer Kettensäge eine Frau verfolgt, brachte ihm eine Dienstaufsichtsbeschwerde ein – bis United Trash – Die Spalte.

Inzwischen sitzt Kuhlbrodt in Schlingensiefs theatralischer Partei „Chance 2000“, die inzwischen ein bißchen ins Trudeln geraten ist. „Bei Politik, Theater und Justiz geht es immer nur um die richtige Inszenierung: Es gibt Kostüme und feste Rollenverteilungen.“

Für den anschließenden Foto-Shoot setzt er seine Theorie begeistert in die Praxis um, klaut sich fürs Massaker im Amtsgericht die Robe eines Richters, legt sich als Killer in Pose. Bei „Chance 2000“ gilt er als Chefideologe, und wenn er über die Berührungspunkte von moderner Soziologie mit Schlingensiefs Inszenierungen redet, bremst er sich selber im Redefluß, „damit ich nicht ins Intellektualisieren komme“.

Immer wieder bahnt sich jedoch die Theorie ihren Weg, so wenn er – gerade vom Wolfgangsee zurückgekehrt, wo er mit 6 Millionen Arbeitslosen für „Chance 2000“ baden gehen wollte – Schlingensiefs Taktik als empirische Kulturkritik beschreibt: „Früher hat man Häuser besetzt, heute besetzt man die gesamte Infrastruktur in der Bundestagswahl auf affirmative Weise.“ Ebenso schnell wechselt er das Thema, erst zu einem Buch über isländische Blaumeisen, dann zu einem Filmfestival in Sarajevo, wo er als Pressevertreter eingeladen ist. Von Ruhestand keine Spur, vielleicht ist die Pensionierung doch so schön, wie man nie zu hoffen wagte.