Überleben ist Glückssache

■ Sinti in der Nazizeit: Otto Rosenbergs Bericht „Das Brennglas“

Historikern mag der autobiographische Bericht „Das Brennglas“ von Otto Rosenberg nichts Neues bieten. Auch ruft die Erzählung keine sentimentale Rührung hervor wie die Anne-Frank-Tagebücher. Dennoch erzählt der heute 71jährige Rosenberg, der der im Vorstand des Zentralrats der deutschen Sinti und Roma sitzt, in einer klaren und einfachen, in der Tradition der Oral History stehenden Sprache die ungeheuerlichsten Ereignisse.

Es ist eine Geschichte, die preiszugeben sich viele Davongekommene lange Zeit nicht durchringen konnten. Zum ersten Mal hat sich ein Sinto entschlossen, vor einer anonymen Öffentlichkeit Zeugnis abzulegen. Ursprünglich sollte der Schriftsteller Ulrich Enzensberger die Biographie Otto Rosenbergs schreiben. Aber dann entschied sich Enzensberger, die mitgeschnittenen Gespräche zu transkribieren. Er bearbeitete sie stilistisch nur leicht, um die Diktion und den Ton Rosenbergs zu erhalten, und versah den Text mit Kommentaren.

Der in Ostpreußen geborene und bei seiner Großmutter in Berlin aufgewachsene Otto Rosenberg bekommt schon früh zu spüren, daß er zu angeblich „artfremden Elementen“ gehört. Vor der Olympiade 1936 säubern die Nazis die Hauptstadt. Die „Zigeuner“ werden in Marzahn „abgestellt“, direkt neben den Rieselfeldern, wo es höllisch stinkt. Sie werden zum Objekt der Rassenforscher Robert Ritter und Eva Justin, die mit ihren Gutachten die Grundlage für die fast vollständige Vernichtung dieser Menschen schaffen. 1938 beginnt die Odyssee der Sinti und Roma durch die „Konzertlager“, wie Sachsenhausen und Oranienburg manchmal genannt wurden, als man noch nicht wußte, was in den Lagern wirklich geschah.

Otto Rosenberg wird in einem Rüstungsbetrieb „dienstverpflichtet“. Weil er ein „Brennglas“ mopst, landet er für vier Monate im Gefängnis in Moabit. Unmittelbar nach seiner Entlassung wird er erneut verhaftet und deportiert. Kurz vor seinem sechzehnten Geburtstag kommt Otto Rosenberg mit dem Zug in Auschwitz an. Haftgrund: „Zig. D.R.“ (Zigeuner Deutsches Reich). Er erhält die Nummer Z 6084.

Auschwitz ist wie russisches Roulette, Überleben reine Glückssache. Otto Rosenberg hatte Glück. In Auschwitz trifft er viele seiner Verwandten wieder. Sie versuchen sich gegenseitig zu helfen, aber seine Geschwister sind zum Tode verurteilt. Otto Rosenberg schmuggelt als Essenholer eines Kapos unter Lebensgefahr Suppe in ihren Block, aber „da war nichts zu machen“.

Auch mit Mengele macht Rosenberg Bekanntschaft, aber nur als dessen Stiefelputzer, der dem „Todesengel von Auschwitz“ über die Sauberkeit des Schuhwerks militärisch Rapport erstatten muß. Über Buchenwald wird Otto Rosenberg nach Dora im Harz verfrachtet, wo an der V2-Wunderwaffe gebastelt wird und die Häftlinge als „Stollenräumer“ arbeiten müssen, bis sie tot umfallen.

Kurz vor Zusammenbruch des Dritten Reichs lassen die Nazis nichts unversucht, um das Blatt noch einmal zu wenden. Sie bieten sogar „Zigeunern“ an, sich für den „Endsieg“ „freiwillig“ bei der SS zu melden. Um sich endlich wieder einmal richtig satt essen zu können, hätte Otto Rosenberg fast mitgemacht. „Aber mein Onkel packte mich am Kragen und gab mir eine Ohrfeige“, denn die Russen waren nur noch wenige Kilometer entfernt.

Eigentlich wollte Otto Rosenberg danach jeden Deutschen, der ihm über den Weg liefe, „totmachen“. Aber dafür war er nach der Befreiung viel zu schwach. Und dann gab es eine Menge anderer Probleme: das eigene überleben – und das Wiederfinden der Familie in Berlin. Doch einzig seine Mutter trifft er wieder. „Was ist mit den anderen?“ fragte er. „Die sind alle tot.“ Klaus Bittermann

Otto Rosenberg: „Das Brennglas“. Aufgezeichnet von Ulrich Enzensberger. Eichborn, 134 Seiten, 36 DM