Picknick im Paradies hinterm Flugplatz

Inszenierungen wahr gewordener Utopien und eingeplante Fluchtorte für erholungsbedürftige Großstädter: 35 zeitgenössische KünstlerInnen verwandeln eine Dortmunder Industrieruine in Reservate der Sehnsucht und zeigen Natur als bedarfsgerechten Restraum  ■ Von Esther Ruelfs

Mit einem Lastenaufzug gelangt der Besucher in den vierten Stock der seit Jahren ungenutzten Union-Brauerei und steht in einem temporären Paradies. In der zerklüfteten Ruinenlandschaft ist eine begrünte Hügellandschaft entstanden, die sich wie ein Teppich über die riesige Industrieetage legt. Hindurch schlängeln sich Wege zu verschiedenen Videoarbeiten. Jan- Peter E. R. Sonntags beeindruckende Arbeit verwandelt die gesamte Etage in eine grüne Wiese, die von massiven Betonwänden und zerbrochenen Galerieumläufen brutal gerahmt wird. Vor uns ist eine Picknickdecke einladend plaziert, in deren Nähe Bocciakugeln und eine Schaukel. In dieser eigenartigen Mischung aus Künstlichkeit und Natürlichkeit und in der überzeugenden Verstrickung von Rauminszenierung und vorgefundener Industrieruine klingt das Grundmotiv der Ausstellung an.

Auf der Picknickdecke liegend, wird man mit Musik und undeutlichem Stimmengemurmel aus einem Transistorradio berieselt. Scheinbar rauscht in weiter Ferne das Meer. Tatsächlich ist es der Film „Vexation Island“, der Biennale-Beitrag Rodney Grahams. Der Traum von der einsamen Insel wird hier zur Insel des Grauens – in traumatischer Wiederholung zeigt eine Endlosschleife den einsamen Schiffbrüchigen, der am Strand im Schatten einer Kokospalme mit einer Wunde am Kopf erwacht und aufsteht, geradewegs an der Kokospalme schüttelt und sogleich von einer Kokosnuß, die ihn am Kopf trifft, wieder in den Schlaf des Vergessens befördert wird.

Die beiden Arbeiten eröffnen prototypisch das thematische Feld, um das die Ausstellung kreist. Sowohl das paradiesische Idyll des frei nach Manet gestalteten „Déjeuner sur l'herbe“ als auch die Unberührtheit der einsamen Insel zeigen zwei mögliche „Reservate der Sehnsucht“. Mit Foucault sprechen die beiden KuratorInnen Hans D. Christ und Iris Dressler von Heterotopien, Orten außerhalb aller Orte. Diese „anderen Orte“ vergleicht Foucault mit einem „Schiff, das ein schaukelndes Stück Raum ist, ein Ort ohne Ort, der aus sich selber lebt, der in sich geschlossen ist und gleichzeitig dem Unendlichen des Meeres ausgeliefert ist“.

Die Ausstellung beschäftigt sich mit den Inszenierungen „wahr gewordener Utopien“, deren Existenz unsere Wünsche nach friedvoller Idylle stillen sollen und die als Fluchträume im Modell unserer Gesellschaft immer schon eingeplant sind. Der Vergnügungspark, die Einkaufs-Malls, die Naherholungsgebiete und Parklandschaften oder die Reise, die für eine kurze Zeit die Flucht in eine fremde Welt ermöglichen, sind Beispiele für jene Orte, welche die üblichen Verhältnisse suspendieren, neutralisieren oder umkehren.

Alberto Simon beschäftigt sich in einer Fotoserie mit einem Reservat am Stadtrand von São Paulo. Die Grünfläche, die der Stadtbevölkerung Sonntag für Sonntag als Picknickplatz dient, ist begrenzt durch eine Autobahn und einen Zaun, der sie von der Landebahn des Flugplatzes trennt. Die Kamera, die von leicht erhöhtem Standort die Szenerie distanziert beobachtet, folgt immer wieder dem Blick der Menschen, die den startenden und landenden Flugzeugen nachschauen. Meist in Rückenansicht gezeigt, blicken sie bei jedem Flugzeugstart erneut zum Himmel. Im Moment der Aufnahme scheint die Zeit außer Kraft gesetzt, die Figuren wirken wie Requisiten, das Flugzeug steht unwirklich still.

Einen archäologischen Blick auf die Freizeitlandschaft der Alpen wirft Walter Niedermayr in seinen Ansichten der durch Skilifte und Fahrrinnen gezeichneten Berghänge, wobei die Fotografien gerade durch die Fremdeinwirkung in die „natürliche“ Landschaft strukturiert sind. Die Skispuren und Abdrücke der Planierraupen verselbständigen sich zu einem abstrakten Muster, das den Blick auf das Medium der Fotografie lenkt, die hier fast zeichnerisch wirkt. Das Grundmotiv des Reisens prägt die Arbeiten Christoph Dragers, der in einer „Apokalyptischen Reise“ Orte dokumentiert, deren Namen unweigerlich mit einer Jahre zuvor stattgefundenen Katastrophe verknüpft sind: das Fußballstadion in Brüssel-Heysel, die Pont de l'Alma in Paris, die US- Airbase Ramstein. Auf den Fotografien ist freilich nichts von den Geschehnissen zu erkennen, die Verknüpfung findet erst durch den unterhalb des Motivs gesetzten Schriftzug statt, der die Orte der Aufnahme benennt.

Nicht selten zeigen die insgesamt 35 zeitgenössischen Positionen das Scheitern von Sehnsüchten oder eine der Idylle schon innewohnende Katastrophe und kratzen so am Illusionismus der „realen“ Welt. Die bedrückende Atmosphäre der letzten Etage gipfelt in einer Arbeit von Marie-José Burki, die den Betrachter in die beklemmende Situation eines riesigen Vogelkäfigs versetzt. An den vier Raumwänden werden überdimensional hinter Gitterstäben gefangene Vögel gezeigt, die, begleitet von überlauten Geräuschen, in ihren Käfigen endlos auf zwei gegenüberliegenden Gitterstäben hin und her hüpfen.

Im Ausstellungskontext erscheinen die Arbeiten am wirkungsvollsten, die das Thema für den Besucher in der Verzahnung von Industriearchitektur und Kunstwerk erfahrbar machen. Dies gelingt besonders gut der Arbeit Mark Formaneks. Er schickt die Besucher durch ein klaustrophobisches Labyrinth von schulterbreiten, schummerig beleuchteten Gängen auf eine intrauterine Reise, die in einer heimelig beleuchteten, wohltemperierten Metallwanne auf einem Sitzsack endet. Dort hockend, werden jene Sehnsüchte gestillt, die Andrea Zittels „Escape vehicles“ zu befriedigen verweigern. Dagegen wirkt zwar die beeindruckende Halle unterhalb des U als ästhetisches Erlebnis, doch die Klanginstallationen von Sonntag überflüssig. Der Ausstellungsrundgang endet schlüssig vor einer herausgebrochenen, verglasten Wand in der sechsten Etage, die den Blick über Dortmund freigibt und Stadt wie Ausstellung in ein Reservat der Sehnsucht verwandelt.

Die Ausstellung ist noch bis zum 4. Oktober im Dortmunder U zu sehen. Katalog 25 DM