Die „Talibanisierung“ Pakistans

Premierminister Nawaz Sharif kündigt die Einführung der Scharia an, um islamistischen Kräften den Wind aus den Segeln zu nehmen, die sich durch den Sieg der Taliban im benachbarten Afghanistan im Aufwind fühlen  ■ Von Thomas Ruttig

Berlin (taz) – Die islamische Rechtsprechung, die Scharia, soll in Pakistan künftig allen anderen Rechtsformen übergeordnet sein. Dies kündigte gestern Premierminister Nawaz Sharif vor dem Parlament an. Er begründete seinen Schritt mit der „zunehmenden Kriminalität“. In Wirklichkeit will er islamistischen Kräften den Wind aus den Segeln nehmen. In einem der quasiautonomen paschtunischen Stammesgebiete im Nordwesten des Landes hatte die „Bewegung zur Einführung der Scharia Muhammads“ (TNSM) zu Monatsbeginn mit der Abspaltung von Pakistan gedroht, wenn bis zum 31. August nicht die Scharia eingeführt werde. Die Geistlichen aus Malakan, einem dieser Gebiete nahe des Khyber-Passes, erklärten, man wolle alle staatlichen Institutionen boykottieren und sei auch zu „physischen und finanziellen Opfern“ bereit.

Das sind keine leeren Worte. In Malakand kam es bereits 1994 zu einem siebentägigen islamistischen Aufstand. 3.000 Bewaffnete legten das öffentliche Leben lahm und nahmen Regierungsbeamte als Geiseln. Unterstützt wurden sie von arabischen Afghanistan-Freiwilligen. Der damalige Chefminister der Nordwest-Grenzprovinz, zu dem die Stammesgebiete gehören, sprach von einem „Fallout des Afghanistan-Krieges“. Erst ein massiver Militäreinsatz mit 40 Todesopfern beendete den Spuk. Im Oktober 1995 folgte ein Putschversuch islamistischer Offiziere und Kaschmir-Rebellen, deren Lager in Afghanistan die USA jetzt beschossen. Nach der Einnahme Kabuls durch die Taliban 1996 unternahm die TNSM in Malakand einen weiteren Aufstand.

Anfang August überließ ein paschtunischer Ältestenrat im benachbarten Mohmand-Gebiet den Taliban ein Stück Territorium zum Straßenbau. Die afghanischen Ultraislamisten beanspruchen dort noch ein weiteres Gebiet als Teil Afghanistans. Dies nährt Befürchtungen, die Taliban könnten eines Tages die gesamte „Durand-Linie“, die umstrittene Grenze zwischen beiden Staaten, in Frage stellen.

Gefahr droht nicht nur an den Rändern des Landes, sondern auch mitten in Pakistan. Selbst in der Millionenstadt Karatschi rufen Taliban-Prediger zum islamischen Aufstand. Sie können auf Aktivisten militanter religiöser Studentenorganisationen und Parteien zählen, die zu Hunderten bei den Taliban militärische Ausbildung und Zuflucht erhielten und ebenso an deren Seite kämpften wie – allein seit 1996 – 10.000 bis 15.000 pakistanische Koranschüler. Sie haben bereits das Kommando an vielen der Universitäten übernommen und heizen bewaffnete Fehden zwischen sunnitischen und schiitischen Gruppen an. Waren sie bisher untereinander zerstritten, hat sie der jüngste Siegeszug ihrer afghanischen Vorbilder zusätzlich beseelt. Der US-Angriff auf ihre afghanischen Lager sorgte für Solidarisierung. In Pakistan wird jetzt von der „Talibanisierung“ des Landes gesprochen.

Vor diesem Hintergrund wird Sharifs Ankündigung zu einem gefährlichen Spiel. Als Ägypten 1971 unter Präsident Sadat einen ähnlichen Schritt machte, bot dies islamistischen Kräften die Gelegenheit, über die Gerichte dem Staat ihren Stempel aufzudrücken. Sadat selbst fiel einem bewaffneten Anschlag von Gruppen zum Opfer, denen die offizielle Islamisierung nicht weit genug ging. Solche Stimmen gibt es auch in Pakistan. So sagt Muhammed Ibrahim von der Islamistenpartei Jamaat-i-Islami: „Unser Ziel ist die Etablierung eines islamischen Staates.“ Und der Vizechef einer Abspaltung von Sharifs Moslemliga pries das Taliban-Regime als „wahre islamische Regierung“.