Vollkommenheit jenseits von Sensationen

■ Natürlich spielten die Berliner Philharmoniker unter Claudio Abbado zur Eröffnung des Bremer Musikfestes ganz exzellent

Es war, wie es kommen mußte: faszinierend; am Ende des langen Eröffnungsabends aber auch ein bißchen peinlich – und liebenswert, vor allem das. Bevor Zigeunergeiger Roby Lakatos auf der After-Abbado-Party im Rathaus losjamte, brach unverhofft eine grüne Welle der Großzügigkeit über die Eröffnungsgäste herein. Passend zum Lindgrün der Glockewände, vielleicht aber auch zur Farbe des Sponsors, Jacobs Krönung, wurde Spinatsuppe aus edel glitzernden Terrinen geschöpft; ganz umsonst. Auch das Fest der hohen Eintrittspreise hat seine charmanten, spendablen Seiten. Unter den so Beglückten schwirrten jede Menge Menschen herum, die Englisch sprachen mit spanischem, italienischen und unlokalisierbarem Akzent und das Logo der Deutschen Grammphon am Revers spazierentrugen. Das Label feierte – auch – in Bremen seinen 100. Geburtstag. Zur Starpolitik seines Arbeitgebers meinte der italienische Abgesandte, daß Andrea Bocelli eigentlich ein Popstar sei und deshalb nicht unter künstlerischen Gesichtspunkten beurteilt werden muß - und kann. Geiger Lakatos dagegen sei auch ein ganz begnadeter Virtuose.

In der Tat. In den teigigen Fingerwürsten des übergewichtigen Mannes aus Ungarn muß ein pfeilgeschwinder subtiler Präzisionsapparat verborgen sein. Wie weit doch Schein und Sein immer wieder auseinanderklaffen können. Aber was macht dieser Mann mit seiner Begabung? Er badet in simpelgestrickten Gefühlen. Eingekleidet in konventionellste Jazzfloskeln wechselt derbe Verzückung mit derber Trauer und derben Schmiß: der Gestus ändert sich, die klebrige Grundeinstellung bleibt. Mit Bach könne er zwar nichts anfangen, aber er spiele hervorragend Brahms und Beethoven, meinte der italienische Grammophnmann, kaum zu glauben.

Die Deutsche Grammophon will diesen leibhaftigen U-Musiker als E-Musiker produktdesignen. Darf man das? Was sagt dazu der Fachmann? „Das gefällt mir sehr gut, so etwas habe ich doch früher auch gerne gespielt, auf meinem Horn“, meint der vierte Hornist der Berliner Philharmoniker. Verrat, Verrat, wo er doch drei Stunden vorher so fein gespielt hat.

Zum Beispiel Wolfgang Rihms „In-Schrift“. Strahlende Bläser, wabernder Gongstab: ein herrschaftlicher Beginn; doch Sekunden später fiebern die Querflöten wie aufgescheuchte Bienen. Dann wieder der satte Glockenton des Anfangs. Mal scheint er sich einem ruhigen Metrum einzufügen, mal fällt er vorlaut den anderen Instrumenten ins Wort: Auf engsten Raum schwankt der Charakter der Musik zwischen Besonnenheit und Hypernervosität. Und drei Minuten später ist wieder alles ganz anders. Innerhalb einer viertel Stunde durchschreitet dieses Stück elegische Wagnergefilde, Arvo Pärtschen Mystizismus kurz vor dem Verstummen und rituelle Trommelmusik, deren kalkulierte Monotonie natürlich unheimlich klug und kompliziert auf fünf Schlagzeuger aufgesplittet ist. In Opern und Sinfonien schneidet Collagefachmann Wolfgang Rihm gerne mal Texte von Artaud, Indianerstämmen, Nietzsche und Rimbaud kreuz und quer. Auch der kreative Irrsinn eines Wölfli und Lenz hat es ihm angetan. In der „In-Schrift“ sind solche literarischen Vorlieben (Anti)struktur geworden: Alles Dionysische und Apollinische dieser Welt wirbelt durcheinander. Jedes Instrument wechselt mehrfach die Rollen. Zum Beispiel die Harfe. Ihre weichen Klänge sieht man eher, als daß man sie hört. Wenn sie aber endlich solistisch aus dem Klangstrom heraustauchen darf, entscheidet sich die Harfenistin für einen hektischen Gestus. Ganz am Ende muß sie sowieso den Part des zarten, aber bestimmten, gehässigen Einspruchs übernehmen nach fulminantem Bläsersturm. Zu jedem Ja gibt es hier ein Aber. Unter solches Umständen ist das Ende Zufall. Es könnte auch weitergehen

Die Genialität des Orchesters wird ganz erst in Brahms 3. Sinfonie hörbar. Nicht extravagantes Gestalten ist sein Teil, sondern Gewohntes in Grade der Perfektion hineinzutreiben, die das Gehör von Minute zu Minute feiner und sensibler machen. Das Thema des Andantes etwa ruht hier in naturbelassener Schlichtheit. Aber zwei allerwinzigste Verzögerungen wirken bei diesem Orchester stärker, als sentimentales Getue bei anderen. Eine Passage in punktiertem Rhythmus im vierten Satz wühlt sich unmittelbar unter die Bauchdecke, wegen der angeschlagenen Härte und Heftigkeit, aber vor allem wegen der Präzision.

Das Orchester nimmt sich in Schumanns Klavierkonzert zurück zugunsten der Solistin Maria Joao Pires. Auch sie gestaltet eher subtil als originell. Keine Bildhauerin, die Baßlinien plastisch herausmeißelt, Akzente in die Textur stanzt, große Dynamikabstufungen fräst. Beim Hochschrauben dramatischer Oktavparallelen ist sie schon mal desinteressiert am Gipfelpunkt. Dafür durchzieht permanentes, zartes Wallen vor allem die Sechzehntelketten. Aber mittenhinein ins feine Gefühl platzen seltsam unlogische Temposchwankungen: Temposteigerungen bei Einsätzen sowieso, aber komischerweise auch mal, wenns eigentlich ruhiger wird. Am Anfang stört das, mit der Zeit nimmt man's als kalkulierten Ausbruch aus der Seelendiziplin. Eines dieser Konzerte, an deren Ende man mit der Gewißheit nach Hause geht, daß anderes Wahrnehmen, anderes Leben möglich ist – zumindest wenn man nicht bei Teufelsgeiger Lakatos landet. bk