Wollt Ihr den totalen Rock?

Multimedia, Materialschlacht, Todeskampf: der Aufmarsch der Rolling Stones auf der Trabrennbahn  ■ Von Jörg Feyer

Der Countdown to Ecstasy lief: Die Tage wurden gezählt, die Bühnenmeter, die Hotelsuiten. Anonyme Helfer durften auf 15 Sekunden Ruhm auf dem Boulevard hoffen. Doch die Tausende, die durch die Tunnel in Stellingen zu den HVV-Bussen drängten, sahen diesmal etwas anders aus. Keine Fahnen, keine Sprechchöre, keine HSV-Schals. Ein paar Dosen Holsten schon, hier und da.

Angekommen auf dem Turf, der die Begegnung der dritten Art bringen sollte, fand die logistische Materialschlacht ihre Fortsetzung im Kleinen, in schönen Fragen wie: „Schatz, stellst du dich schon mal beim Bier an?“ Das kostete einen Fünfer, immerhin im pfandbewehrten Bridges-To-Babylon-Plastikbecher (0,3), der schnell zum billigsten Souvenir avancierte. Soo billig machen es die Stones halt nicht, selbst wenn sie sich diesmal von einer Brauerei aushalten ließen.

Dann – pünktlich sind sie ja – grummelte das Bühnenmonster, spuckte auch ein bißchen Feuer und Rauch. Keine Ansage – Keith, the human riff, schlurfte einfach an die Rampe und dröhnte ein metallisches, vom nicht so starken Winde nur gelinde verwehtes „Satisfaction“ heraus. Kollege Jagger fiel dann zwei Songs später zur Begrüßung leider nichts besseres ein als „esis scheen widde hie su sein, nak so lange seid“. Oder so ähnlich. Ein bißchen origineller hätte es schon sein können bei ihrem ersten Auftritt in Hamburg seit 25 Jahren. Andererseits: Wer erwartet von den Stones wirklich noch Originalität?

So anachronistisch oder „sich selbst treu geblieben“ Gebaren und Musik auch sind – so modern-multimedial inszenieren sie sich. Oben im Bühnenhintergrund wacht ein riesiges Video-Auge, das zumindest ab der, nun ja, 50. Reihe alle Blicke auf sich ziehen mußte und den Stones nicht nur die Regie über ihre Show, sondern auch schon über deren Rezeption in die Hand gab. Der Fernglas-Rock des ausgehenden 20. Jahrhunderts trägt nun mal leicht totalitäre Züge. Pech nur, wenn er sich dann schon mal mit den eigenen Waffen schlägt: Zu „Anybody Seen My Baby?“ flimmerten auch Schnipsel aus dem Video vorüber. Und erinnerten schmerzlich daran, daß MTV ja vielleicht doch besser ist als die eher holprig-laue Echtzeit-Darbietung. Dann schon lieber „Dead Flowers“, das erstaunlich wenig Patina angesetzt hat und – als irgendwie ermittelter Internet-Wunschsong des Abends – ja auch bestens zur Trabrennbahn paßte: Kentucky liegt doch in Bahrenfeld, an einem derby day wie diesem!

Mit dem Intermezzo auf der kleinen Zusatzbühne mitten im Publikum nährten die Stones später geschickt die Illusion eines Club-Auftritts. Fast paradox: Als sie am besten klangen – roh, reduziert, bei „Little Queenie“ und „Like A Rolling Stone“ ganz dem magischen swing von Onkel Charlie ausgeliefert, ohne Bläser-Pomp und Sängerinnen-Gekeife (der einzige legitime Background-Sänger der Stones ist ohnehin Keith, der „besser singt als Pavarotti“, wie ein Transparent verkündete, aber leider meist den Mund hielt) –, da also waren sie am schlechtesten zu sehen. Denn das Auge blieb diese drei Songs lang geschlossen, begünstigte die gewiß harten Fans in nächster Nähe, die sich zuvor für den Gegenwert eines gutklassigen Gänge-Menus stundenlang den Bauch in die Beine gestanden hatten. Und die vor allem Keith und Charlie verehren und lieben. Mehr als „Respekt“ ist hingegen für Streber Mick nicht drin.

Eine andere Art von Klassengesellschaft hatte sich da längst manifestiert, zumal ja nicht irgendwer, sondern die Rock-Aristokratie schlechthin Hof hielt. VIPs kämpften sich mit Verachtung durchs zahlende Volk in Kegelclub-Stimmung. Für einen Hauch, oder besser: eine Fahne von Rebellion sorgten allenfalls ein paar traurige Pegeltrinker, die über die Balustrade kletterten und des Feldes verwiesen wurden. Was nicht immer sofort gelang. Und so mußte sogar der Erste Bürgermeister dieser Stadt zu später Stunde unfreiwillig wahlkämpfen, bedrängt von einem eifernden Normalo, der alle Gestalten auf der VIP-Tribüne für Politiker hielt. Doch Ortwin kann sowas, zum Abschied prosteten sich die beiden sogar zu. Ein Schluck aufs bestürzend vorhersehbare Finale eines Stones-Gigs zwischen „Huu, huu!“ (“Sympathy For The Devil“) und „Yeah, yeah, yeah – Huuuuhh!“ (“Brown Sugar“).

Es hätte schon skeptisch stimmen müssen, daß die HVV-Bediensteten im vorhinein so launig „viel Spaß“ gewünscht hatten. Prompt hörte der danach auch auf. Der Shuttle-Service (den man immerhin mit DM 1,50 pro 90.000mal verkauftem Ticket bezahlte) mutierte zur großen Bus-Lotterie um Mitternacht. Die Haltestelle wurde kurzerhand auf eine long, aber nicht ganz so winding road verlegt, wo man zunächst noch „Ja, wo halten sie denn?“ rätseln durfte, während der Polizei nur ein barsches „Machen Sie die Fahrbahn frei!“ einfiel. Bis dann irgendwann heiterer Fatalismus in Handgreiflichkeiten umzuschlagen drohte und die wenigen Busse – „Leider keine Mitfahrt!“ – kurzerhand gekapert wurden. Ein Abend zwischen Ecstasy und Agonie: Wie schön, daß wir nur 25 Jahre auf den nächsten Countdown warten müssen!