Bröckchenweise wie Partyhäppchen

■ Andrea Bocelli & Co. erfreuten einen Massenauflauf von circa 6.000 Stück Menschen im Bremer Messezentrum

99 Luftballons. Und sie fliegen nicht davon. Mit Dir gleich schon gar nicht. Basta. Sie kleben, ordentlich aneinandergereiht an der rechten Wand eines Raums, nein, einer riesigen plattgewalzten Schuhschachtel namens Foyer im Messezentrum. Und in der Mitte der grünen Ballonwiese lacht uns eine Krone entgegen, aus Pappe, echt gülden eingefärbt, von namenlosen Arbeitssklaven liebevoll ausgeschnitten, nehmen wir einfach mal so an. Ein paar Schritte weiter blinkt uns just dieselbe Krone entgegen; heiter, ausgelassen, ja, vielleicht sogar eine Spur exaltiert, wer kennt schon die Psyche von Kronen. Sie, die zweite Krone, badet in einem quadratkilometergroßen Meer aus weißen und blauen Lämpchen. Orwell log: Nicht Big Brother watcht uns; Markenartikel sind es, die uns verfolgen, verführen, verbiegen, jaja. An diesem Abend ist es die einzigartige, köstliche, wunderbar aromatische Krönung von Jacobs: Krönung – Krone – klarer Fall von stringenter Logik.

Sehr viel weniger logisch geht es zu im Konzertgetriebe um Andrea Bocelli. Sechstausend Menschen sind wie die Hühner kurz vor der Massenschlachtung aneinandergereiht. Eine hochphilosophische Situation: Der Mensch wird als nichtswürdige Unerheblichkeit kenntlich. Diejenigen, die ganz rechts und ganz links vorne sitzen, sehen von der Bühne definitiv nichts. Nada. Nothing. Die Gäste ganz hinten nehmen 250 Musiker als Heer von unermüdlichen Arbeiterameisen wahr. Aber auf zwei Videoleinwänden menscheln Gesichter immerhin rattengroß: aufgerissene Chorsängerinnenmünder, umgarnt von haarspraybewegtem Blondhaar und funkelnden Ohrclips, außerdem ein eitler, Innigkeit simulierender Dirigent; es muß wie Exhibitionismus im Park sein, die Hand restlos hingegeben gen Mund zu führen oder den Augenaufschlag einer Fee zu imitieren und dabei von einer ferngesteuerten Kamera umtänzelt zu werden.

Unter optischen Gesichtspunkten ist die Erlebnissituation zu Hause vor dem Bildschirm um Klassen intimer. Und auch akustisch bieten moderne TV-Apparaturen deutlich mehr. Mit einer 699-Mark-Stereokompaktanlage kann der realisierte Klang gleich schon gar nicht mithalten. Immer wieder drohen die Geigen zu scheppern; oder man ahnt höchste Innigkeit und hört doch nur ein windiges Geschmalze. Und wenn der Chor groß wird, suppt der Klang zu Matsch – dabei haben wir doch noch gar nicht Winter. Ekstase als Entropie, als Strukturauflösung; da ist immerhin ein Fünkchen Wahrheit dran.

Jede CD-Einspielung ist näher dran am vielbeschworenen „Au-thentischen“, ist billiger und einen Parkplatz braucht man auch nicht. Doch es gibt immer ein: Und-trotzdem. Obwohl also eine solche Live-Farce die unlogischste Angelegenheit der ganzen Welt ist, sind die Menschen glücklich im selben Luftraum zu atmen wie der Meister; vielleicht strömt ja ein Kohldioxidatom aus seiner Lunge in die unsere. Die Ursachen solcher Verzückung kann man nachlesen in Le Bons Massenpsychologie.

Und eigentlich ist sogar Andrea Bocelli ok. Tags davor fordern – und fördern – Berliner Philharmoniker das genaue Auslauschen. Bocelli dagegen kitzelt an den Hormonen. Ist eben eine komplett andere Form des Vergnügens. Wie die anderen Bestsellertenöre ist auch bei Bocelli Höhe immer eine krampfig-gestemmte, ein Kraftakt, der mit dem obligatorischen Pavarottischluchzer der herzzerreißenden Entkräftung abgebrochen wird. Daß hohe Töne zur Abwechslung auch mal Leichtigkeit, Reinheit, Zartheit bedeuten können, davon weiß der Mann rein gar nichts. Überhaupt. Seine Palette an Stimmungen ist begrenzt. Am liebsten gibt er den Versunkenen. Aber kann einer von wahrer Versunkenheit wissen, der seiner Stimme immer die flauschige Kontur eines Wattebauschs verleiht, rund und selig durchzittert? Bocelli hat ein schönes, warmes Timbre, die Kriterien ernsthafter Textdeutung erfüllt er aber nicht. Muß er auch nicht: Auch Wein kann man trinken, entweder um die edlen Geschmacksknospen im Maul feinsinnig zu inspirieren oder um sich schlicht und einfach blau zu saufen.

Die Grenzen von U- und E-Musik sind eben zur Zeit am zerfasern. Auch hier muß wohl am Ende stehen: Naja, wer's mag, auch wenn alles von Bach bis Rossini, Verdi, Fauré einen Andrew-Lloyd-Webber-Touch bekommt. Ob so ein Gefühlsbad allerdings auf einem Festival, das mit Niveau wirbt, richtig aufgehoben ist, kann man sich schon fragen.

Wie im Popbusiness wurden die Hits aus drei Jahrhunderten zusammengesampelt, bröckchenweise wie Pralinen oder Partyhappen.

Barbara Kern