100 furchtbare Spieler

■ Nicht nur die Balljungs von New York sind froh, daß Andre Agassi die US Open belebt

New York (taz) – Es sind glückliche Tage, die Vernon Singleton bei den Offenen Amerikanischen Tennis-Meisterschaften in New York erlebt. Sein Job in einem Catering-Service ist für zwei Wochen weit weg, und er darf eintauchen in eine aufgeräumte Welt, die er sonst nur im Fernsehen sieht. Singleton ist einer vielen Helfer bei den US Open. „Ich geben den Spielern die Bälle und so“, sagt er.

Lässig hängt er im hohen Maschenzaun, der die Trainingsplätze umgibt, und zählt stolz ein paar Stars auf, die ihn regelmäßig grüßen. Und dann verrät er mit gespielter Unaufgeregtheit: „Gerade habe ich mich mit Pete Sampras umgezogen.“ Wobei er betonen möchte: „Ich hänge mehr mit Andre Agassi rum.“ Dem gönne er auch einen Sieg bei den US Open mehr als Sampras. Warum? „Agassi ist cool.“ Und Sampras? „Mehr distanziert.“

Also ist Vernon Singleton doch nur ein ganz gewöhnlicher amerikanischer Tennis-Fan. Für den Weltranglisten-Ersten Sampras empfinden die Amerikaner allenfalls Respekt. Zu sachlich ist sein Stil, zu oft hat er dominiert. Treibauf Agassi dagegen hat durch sein extravagantes Auftreten und zotteliges Langhaar schon zu Beginn der Karriere seine Landsleute begeistert. Und jetzt, da er etwas gesetzter wirkt, die Haare geschoren sind und er sich schlank trainiert hat, erfreut er durch ein bemerkenswertes Comeback. Auf Weltranglistenplatz 122 war der ehemalige Erste Ende 1997 abgerutscht, nachdem er sich zwischenzeitlich sehr auf die Ehe mit Schauspielerin Brooke Shields konzentrierte; jetzt ist er wieder Nummer acht – das macht Eindruck in den USA, wo man es gerne etwas theatralischer und märchenhafter hat.

Eigentlich kann die ganze Branche froh sein, daß Agassi die Rückkehr gelungen ist. Denn in den USA hat mittlerweile das gesamte Männertennis ein Imageproblem. Mit Schrecken haben die Amerikaner festgestellt, daß zu den 16 Gesetzten nur zwei Einheimische gehören, nämlich Sampras und Agassi. Schon blicken sie wehmütig auf die 80er Jahre zurück, als der geniale Stänkerer John McEnroe Schiedsrichter einschüchterte und der charismatische Jimmy Connors gestenreich jubelte. „Männertennis ist zur Zeit in erster Linie Pete Sampras und 100 furchtbare Spieler, die ihn nur vom Sockel stoßen könnten, wenn er einen schlechten Tag hätte“, mäkelt gähnend die New York Times.

Seinen Bedarf an Herz- Schmerz-Stories und spannungsgeladenen Plots deckt der amerikanische Tennisfreund längst bei der Frauenkonkurrenz. Da gibt es eine unbeständige Weltranglisten- Erste Martina Hingis, eine Monica Seles, eine Mirjana Lucic, die ihren Vater beschuldigt, er habe sich an ihr unsittlich vergangen, und vieles mehr. Selbst die New York Times ist da amüsiert. „Die Frauen haben die besseren Geschichten“, titelte sie am Sonntag.

Für Vernon Singleton werden wohl trotzdem die Männer die prominenteren bleiben. Denn daß er sich mit Martina Hingis umgezogen hat, wird er wohl nie erzählen können. Thomas Hahn