Gehorsam war der wahre Schrecken

Zwei wichtige Bücher schildern die schrittweise Ausgrenzung und den Mord an den Juden aus der Perspektive der Opfer  ■ Von Annette Jander

„Die meisten Historiker meiner Generation, die kurz vor Beginn der NS-Zeit geboren sind, erkennen explizit oder implizit: Wer sich in die Ereignisse jener Jahre hineingräbt, der entdeckt nicht nur eine kollektive Vergangenheit wie jede andere, sondern auch die entscheidenden Elemente seines eigenen Lebens.“ Dieses Bekenntnis zur bewußten Aufgabe der inneren Distanz schadet Friedländers Darstellung der Ouvertüre zur Vernichtung der Juden nicht, im Gegenteil. Es ist ein Geschichtsbuch mit erzählerischen Qualitäten geworden, was nicht zuletzt auch der Übersetzung von Martin Pfeiffer zu verdanken ist.

Friedländer beleuchtet prägnante Einzelschicksale bislang Unbekannter, die die Maschinerie der Judenausgrenzung in Deutschland und Österreich leichter verstehbar machen, als viele frühere Untersuchungen über die Vorkriegszeit. Er zeigt, daß den Juden schon am 30. Januar 1933 die Schlinge um den Hals gelegt wurde, daß die Nazis aber auch bereit waren, Schritte zurückzugehen, wenn der Gegendruck zu groß wurde. Der „Dämon“ Hitler konnte pragmatisch sein, selbst in der Judenfrage. Aber der „Erlösungsantisemitismus“ der Nazis, wie Friedländer ihn nennt, wird zum Kern der nationalsozialistischen Ideologie. Die stückweise Entrechtung, der die Entmenschlichung folgen sollte, war für Friedländer der erste, bewußte Schritt zum Mord. Das erlösende Moment dieser Form des Antisemitismus war hier nicht allein die „Auslöschung“ der jüdischen Menschen. Sie wurden zum Symbol alles Schlechten im Menschen überhaupt erklärt und boten daher Raum für die Erlösung vom Bösen für alle. So offenbart sich auch das Maß an vorauseilendem Gehorsam bei Friedländer als der wahre Schrecken dieser Zeit.

Städte wie Dortmund und Stuttgart verboten von sich aus Juden den Aufenthalt in öffentlichen Schwimmbädern. In der Praxis war es jedoch schwierig, Juden und Nichtjuden voneinander zu trennen. In ländlichen Gebieten war der Viehhandel meist in jüdischer Hand, und die Bauern gaben auch entgegen örtlichen Parteianweisungen ihre Geschäftsbeziehungen zu jüdischen Viehhändlern nicht auf. Nichtjüdische Arbeitgeber klagten und durften ihre jüdischen Angestellten weiterbeschäftigen, selbst als diese zu Zwangsarbeitsmaßnahmen herangezogen werden sollten. Es wurde weiter in jüdischen Geschäften gekauft. Sah man sich dort, wurde stillschweigend weggesehen, wie Victor Klemperer in seinem Tagebuch, von Friedländer zitiert, vermerkt.

Hier werden keine Akte der Menschlichkeit, sondern wird ein Festhalten an die Normalität geschildert. Die Gestapo bewachte jüdische Geschäfte und notierte es, wenn nichtjüdische Bürger dort einkauften, akribisch genau, mit Uhrzeit. Gleichzeitig wurde fleißig denunziert, „Rassenschande“ aufzuspüren wurde geradezu zur Obsession. Die Deutschen waren also auch kurz vor Ausbruch des Krieges noch nicht vor Angst erstarrt. Das Schicksal der Juden blieb nicht verborgen: Die lokalen Zeitungen waren voll davon.

„Das Dritte Reich und die Juden“ ist der erste Teil einer Gesamtdarstellung des Holocaust, aber Friedländer macht bereits hier deutlich, daß Hitler nie einen Zweifel an seinen Absichten gegenüber den Juden gelassen hat, weder öffentlich noch privat. Die ausführenden Täter aber interessieren Friedländer nur am Rande, viel wichtiger ist ihm das Alltagsleben der Juden oder Nichtjuden. Im Persönlichen findet sich hier oft das Allgemeine. Weshalb konnte der geifernde Antisemitismus in Deutschland Fuß fassen? Der Autor sieht die moralische Schuld vorrangig bei den „einverstandenen Eliten“. Universitäten und Kirchen haben versagt. Die in Deutschland verehrten Mitglieder der Bekennenden Kirche konnten zu keiner Stellungnahme gegen die Judenverfolgung finden, die katholische Kirche schwieg generell. Daß Tausende katholische Priester und evangelische Pfarrer im KZ starben, ändert daran nichts. „Ein solch totaler Zusammenbruch ist mehr als ungewöhnlich“, schreibt Friedländer über die Rückgratlosigkeit der führenden Kräfte der Universitäten und Kirchen in Deutschland. „Die konkrete Situation der Juden war ein Test dafür, wie weit sich jedes moralische Prinzip zum Schweigen bringen ließ.“

Der Geschichte letzten Teil kann man in der Gesamtdarstellung der Vernichtung des europäischen Judentums der israelischen Historikerin Leni Yahil nachlesen. Yahils „Die Shoa“ ist ein seit der Erstveröffentlichung 1987 mehrfach ausgezeichnetes Standardwerk. In der Übersetzung von H. Jochen Bumann liegt es nun auf deutsch vor. Yahil konnte hebräische und jiddische Quellen erschließen, die jüdische Erfahrung in Osteuropa intensiv recherieren. Dies ist auch der stärkste Teil der Gesamtdarstellung. Ihre eher thematisch als chronologisch geordnete Darstellung von Aktion und Reaktion schildert die Shoa vorzugsweise aus der Sicht der Juden Polens, quasi aus dem Innern des Walfischbauchs heraus. Ihre nüchterne Erzählweise, die aber nicht ohne Mitgefühl ist, unterstreicht ihr Anliegen, Menschen im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu schildern. Streng trennt sie die historische Schilderung von Ereignissen von deren Beurteilung, die oft erst später auftaucht, was es den Lesern nicht immer leichtmacht. Umstrittene Kapitel wie die Rolle der Judenräte sieht sie differenziert und persönlichkeitsbezogen. Die Deutschen tauchen bei Yahil eher pauschal auf, von Ausnahmen wie dem Fabrikanten Rosner abgesehen, der seine jüdischen Arbeiter, ähnlich wie Oskar Schindler, vor den Nazis zu schützen versuchte, schließlich aber selbst hingerichtet wurde. Yahil setzt Kontrapunkte. Sie schildert, wie der Oberste des Judenrats von Lodz, Rumkowski, sich im hermetisch abgeriegelten Ghetto wie ein absolutistischer Herrscher gebärdet, während Adam Cerniakow in der gleichen Funktion in Warschau unter der erzwungenen Mittäterschaft leidet. Beide Männer müssen in Yahils Augen zwangsläufig genauso scheitern wie der SS-Offizier Kurt Gerstein, der die Blausäure nach Auschwitz bringt (und diese als nicht mehr brauchbar deklariert, nachdem er Zeuge einer Vergasung wurde). Schuldig wurden sie alle irgendwie. Yahil liefert eine schicksalhafte Darstellung des Weges nach Auschwitz, aber sie läßt nie Zweifel daran, daß der Ursprung der Täterschaft bei Hitler und seinen Anhängern liegt, deren Ideologie aber fast überall, wo sie hinkamen, auf fruchtbaren Boden fiel. Abstrakter als Friedländer, aber in der Aussage ähnlich, resümiert Yahil: „Da der Nationalsozialismus auf der Antithese zu allen grundlegenden Werten der menschlichen Gesellschaft fußte, führte er notwendigerweise zu einer Umkehrung der öffentlichen und privaten Moral, und damit zum Verbrechen.“ Aber selbst noch während des Krieges kam es ganz darauf an, wo man als Jude lebte. In Dänemark z.B. konnten sich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion fast alle 7.000 dänischen Juden mit Hilfe der dänischen Bevölkerung nach Schweden in Sicherheit bringen. Diese Episode widerspricht Yahils eigener, dem zionistischen Standpunkt Rechnung tragender Einschätzung, daß die Assimilation den deutschen Juden zum Verhängnis wurde, weil sie blind waren für die Vorgänge um sich herum. Aber selbst die notleidenden Juden in den polnischen Ghettos konnten sich die Gaskammern von Chelmno und Auschwitz nicht vorstellen. Dennoch gab es Rettungsversuche von außen. Yahil erwähnt zwar nur die jüdischen Organisationen, aber es gab auch andere, wie das amerikanische Emergency Rescue Committee.

Beide Bücher sind Alterswerke, deren Blickwinkel gerade für die deutschen Leser von Interesse sind. Während frühere Gesamtdarstellungen – wie die erste von Raul Hilberg oder die Werke von Lucy Dawidowicz und Martin Broszat – meist die Täter- und Ereignisfrage stellten, vollzieht Saul Friedländer parallel dazu den nächsten Schritt und spürt die moralische Schuld der Nichttäter auf, untersucht, was die großen Ereignisse im kleinen bedeuten. Damit erteilt er der Kategorie der Zuschauer, von Hilberg „bystanders“ genannt, eine klare Absage.

Saul Friedländer: „Das Dritte Reich und die Juden. Die Jahre der Verfolgung 1933–1939“. Deutsch von Martin Pfeiffer. Verlag C.H. Beck, München 1998, 458 S., 58 DM

Leni Yahil: „Die Shoa. Überlebenskampf und Vernichtung der europäischen Juden“. Deutsch von H. Jochen Bumann. Luchterhand, 1998, 1055 S., 128 DM