Beichte sehr begehrt

■ Manuskript des Verfassungsschützers und Überläufers Tiedge in Berlin beschlagnahmt

Berlin (taz) – Die Herren kamen gestern am Vormittag, und gestützt auf einen Durchsuchungsbeschluß des Amtsgerichts Tiergarten beschlagnahmten sie beim „Verlag Das neue Berlin“ ein Manuskript des 1985 in die DDR übergelaufenen Verfassungsschutzmitarbeiter Hansjoachim Tiedge. Sichergestellt wurden nicht nur 479 Seiten Druckfahnen, auch Kopien der Geschäftsakte und eine Textdiskette wurde von den Staatsanwälten und Polizeibeamten eingezogen.

Der Anlaß der Beschlagnahme war die Absicht des Verlages, die Memoiren Tiedges, der sich zur Zeit in der Nähe von Moskau aufhalten soll, in den nächsten Wochen unter dem Titel „Der Überläufer – eine Lebensbeichte“ herauszugeben. Tiedges Übertritt vor 13 Jahren gilt als einer der bedeutendsten Verratsfälle des Bundesamts für Verfassungsschutz – und wie es scheint, fürchten die Geheimdienstler noch heute unangenehme Enthüllungen ihres Mitarbeiters, der beinahe 20 Jahre für die Behörde gearbeitet hatte. Begründet wird die Beschlagnahme mit dem Verdacht der „Verletzung von Dienstgeheimnissen und einer besonderen Geheimhaltungspflicht“. Der Verlag steht in den Augen des Gerichtes im Verdacht, „zumindest Beihilfe zu der vom Beschuldigten Tiedge begangenen Tat“ zu leisten.

Tiedges „Beichte“ sollte detailliert über die Organisationsstrukturen des Verfassungsschutzes, über die Entwicklung einzelner namentlich genannter Mitarbeiter sowie über die Zusammenarbeit mit befreundeten Geheimdiensten berichten. Fragt sich nur, wer den Berliner Staatsanwälten den Tip über die Existenz des Textes gegeben hat, der zu Beginn der 90er Jahre in Moskau verfaßt worden sein soll und den Tiedge nach den Angaben des Verlages in den letzten Monatebn noch einmal überarbeitet hat. Wolfgang Gast