Sozialismus mit russischem Antlitz

■ Rußlands Kommunisten wollen mitregieren. Doch was wollen die Genossen? Ihr Sozialismus bleibt unklar, ihre Wähler sind überaltert, Basis und Führung zerstritten - und ein Wirtschaftsprogramm fehlt Aus Mo

Sozialismus mit russischem Antlitz

Wieder einmal scheint die Stunde der Kommunisten in Rußland gekommen. Und abermals ist nicht ihre eigene politische Gestaltungskraft gefragt. Die KP muß nur reagieren. Die Themen liefert die erratische Entscheidungsfindung des angezählten Präsidenten. Von ihnen hängt es ab, ob Boris Jelzin Wiktor Tschernomyrdin als neuen alten Premierminister installieren kann. Schon im Frühjahr dieses Jahres bei der Wahl Sergej Kirijenkos zum Ministerpräsidenten stellten sich die Kommunisten zunächst quer, ein Teil ihrer Abgeordneten stimmte schließlich dennoch zu. Die Aussicht, beträchtlicher Pfründen durch die Auflösung des Parlaments verlustig zu gehen, bewog sie zum Einlenken.

Indes erklären die egoistischen Interessen der kommunistischen Volksvertreter die Wankelmütigkeit der Partei nicht hinreichend. Das Dilemma der KPRF liegt tiefer. Mit über 500.000 Mitgliedern ist die Nachfolgeorganisation der KPdSU immer noch Rußlands größte Partei, die 20.000 Grundorganisationen in allen Teilen des Landes unterhält. Ähnlich wie die KP Italiens in der Nachkriegszeit vermochten viele Genossen die Leitung lokaler und regionaler Verwaltungen zu übernehmen. Dennoch gelang es der Partei nicht, ihre regionale Bedeutung auf die föderale Ebene zu übertragen. Zwar erreicht sie bei Wahlen zwischen 20 und 30 Prozent der Bürger, und Frontmann Gennadij Sjuganow hält in Umfragen seit Monaten unangefochten die Spitze unter den Präsidentschaftskandidaten. Doch Zahlen und Zuspruch trügen.

Die Klientel der Kommunisten schrumpft beständig, und nicht etwa, weil sich die sozialen Verhältnisse rapide verbessert hätten. Vielmehr bedroht der demographische Faktor die Schlagkraft der Partei, deren Anhänger sich im wesentlichen aus Rentnern, kleinstädtischer und dörflicher Bevölkerung rekrutieren und die nur über eine geringe Ausbildung verfügen. In der Jugend können die ergrauten Funktionäre keinen Funken der Begeisterung entfachen. Apparatschiks hüten die Mitgliederdaten daher auch wie ein Staatsgeheimnis.

Sieben Jahre nach dem Untergang der Sowjetunion fehlt der KP immer noch ein überzeugendes Wirtschaftsprogramm. Womöglich hat sich deswegen auch ihre klassische Klientel, die Industriearbeiter, abgewandt. Versuche, sich trotz allem an die Spitze sozialer Proteste zu schieben, schlugen wiederholt fehl. Das Dilemma offenbarte sich am nationalen Protesttag im Frühjahr: 20 Millionen Demonstranten erwartete die Partei, nicht einmal eine Million fanden sich ein.

Darüber hinaus steckt die KP tief in einem strukturellen Problem. Die Maßnahmen, die nötig wären, um die Partei zu reformieren, würden sie zugleich womöglich in die Bedeutungslosigkeit stürzen. Einerseits zeigte die Partei durch ihre Mitarbeit im Parlament, daß sie bereits Teil des von der Verfassung vorgegebenen neuen Institutionengefüges ist. Revolutionäre Reden schwingen Duma-Abgeordnete höchstens noch auf Wahlveranstaltungen. Die Vorwürfe der Basis, die Parteielite sei zu zahm, beantwortete Generalsekretär Gennadij Sjuganow mit der sibyllinischen Formel von der „verantwortlichen, aber unversöhnlichen Opposition innerhalb des bestehenden Systems“.

Die Kluft zwischen Basis und Führung spiegelt sich auch in der Duma wider. Dort sitzen sowohl Parteifunktionäre aus dem Apparat, aus Privatfirmen und Banken. Sie haben untereinander schon verteilt, was es zu verteilen gab, und suchen Kontakte zu den herrschenden Kreisen und Finanzstrukturen. Jede Veränderung des Status quo läuft ihrem Ziel zuwider, in absehbarer Zeit an der Macht zu partizipieren. Die zweite Gruppe setzt sich aus unerfahrenen Parteiarbeitern zusammen, die mangelnde Professionalität durch radikale Losungen kompensieren. Jede inhaltliche Entscheidung stellt die Partei vor eine innere Zerreißprobe. Aus der ideologischen Heterogenität erklärt sich, warum die Kommunisten sich scheuen, ein konkretes Programm zu erarbeiten.

So paradox es klingt, gerade die inneren Widersprüche halten die Partei zur Zeit noch zusammen. Eine Spaltung würde die organisatorische Infrastruktur zerstören und die atomisierten Grüppchen in alle Winde zerstreuen. Konsequent verweigert die Partei zu zentralen Fragen daher die Auskunft. Wie soll eine von ihr anvisierte zukünftige Gesellschaft aussehen, was muß eine moderne sozialistische Partei leisten, und wo siedelt sie ihre soziale Basis an? Weil diese Fragen ohne Antwort bleiben, trifft man in den Reihen der Kommunisten Slawophile neben marxistischen Erneuerern, Pragmatiker Seite an Seite mit Sowjettraditionalisten und braun angelaufenen Nationalpatrioten. Dabei mißtraut jeder selbstverständlich jedem, wie es zu einer lebendigen linken Partei zu gehören scheint.

Gennadij Sjuganow führt den Flügel der Patrioten, die sich vom Klassenkampf völlig losgesagt haben und das Heil in Rußlands Besonderheit, der Spiritualität und dem vermeintlichen zivilisatorischen Anderssein sehen. Sozialistisch bedeutet in dieser Interpretation schlicht ein den Russen unterstellter Hang zur Kollektivität. Das wiederum treibt die linke Fraktion zur Weißglut, die unverdrossen dem Leninismus huldigt und dem kleinbürgerlichen Staatspatriotismus auf keinen Fall den Internationalismus opfern will. Sjuganows Stellvertreter Walentin Kuptsow nimmt die verquaste Mystik des Generalsekretärs oft genug zum Anlaß, um aus der Kulisse heraus die Machtfrage zu provozieren. Bisher vergeblich. Schließlich herrscht im wichtigsten Punkt immer noch Übereinstimmung: Die schlimmsten Feinde sind Linksabweichler und Sozialdemokraten.

Instinktiv weicht die Partei dem Reformdruck aus, schon die leichteste Erschütterung würde einen Teil der Basis über Bord werfen. Ändert sie nicht ihre Ideologie, zieht die Zukunft an ihr vorbei, wandelt sie sich zu rasch, büßt sie ihre gegenwärtige Rolle ein. Das verurteilt die Kommunisten zum Strukturkonservatismus. Der Status quo entspricht dem Parteiwesen. Deshalb würde eine weiterreichende Form von Regierungsverantwortung die KP in eine heikle Situation versetzen.