Vom Streß der moralisch-ethischen Erneuerung

■ Norwegens Ministerpräsident Kjell Magne Bondevik nimmt Auszeit wegen Depressionen

Stockholm (taz) – Norwegens Ministerpräsident Kjell Magne Bondevik dürfte der erste Regierungschef sein, der sich wegen schwerer Depressionen krankschreiben läßt und erst einmal für eine, vielleicht auch für ein paar Wochen eine Auszeit nehmen will.

Vor einem Jahr hatte der zurückhaltende 50jährige überraschend die Wahlen gewonnen. Jetzt sind ihm die Probleme, die sich auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet für das bisherige Wirtschaftsmusterland aufzutürmen begannen, offenbar zu groß geworden. Als erster Christdemokrat auf den höchsten Regierungsposten im säkularisierten Norwegen mehr geschoben als hinaufgestürmt, weil das Wahlergebnis keine der bislang üblichen Rechts- oder Linkskonstellationen zuließ, war er mit einem Programm an den Start gekommen, das ihn ganz als Prediger outet: Norwegen sollte sich von innen heraus erneuern. Ausgehend von der Familie als Keimzelle sollten alle Bereiche des öffentlichen Lebens mit neuen ethischen Zielen konfrontiert werden, um wegzukommen vom materialistischen Denken, das die norwegische Volksseele zerstöre.

Der Sittenverfall war das Thema, von dem Bondevik glaubte, es sei seine große Herausforderung: Kampf gegen Kriminalität und Drogenmißbrauch, Warnung vor steigenden Scheidungsraten und dem „Kollaps der Familie“, Appell an die Wirtschaftsbosse, sich bei ihren Geschäften künftig „größerer Moralität“ zu verschreiben.

Aber nicht nur der Playboy kümmerte sich darum wenig und kam im November erstmals mit einer norwegischen Ausgabe auf den Markt. Auch die Politik nahm keine Rücksicht. Seit Wochen wird offen darüber spekuliert, ob Bondevik das einjährige Regierungsjubiläum nun nur um ein oder vielleicht doch zwei Monate überleben sollte – mehr Chancen werden seiner Regierung kaum mehr eingeräumt. Das jetzige „Time-out“ könnte diese Frage bald obsolet werden lassen. Reinhard Wolff