Droht ein neues 1929?

Die Rußland-Krise hat die Wall Street angesteckt. Die Angst vor einer weltweiten Depression geht um  ■ Von Nicola Liebert

Berlin (taz) – Das war zuviel: Der russische Premier Wiktor Tschernomyrdin wird vom Parlament nicht bestätigt, Präsident Bill Clinton reist nach Moskau und signalisiert damit, wie ernst die US- Regierung die Krise nimmt, und dann bricht auch noch in Hongkong die Börse ein, weil die dortige Regierung ihre Unterstützungskäufe eingestellt hat.

Die Massenflucht aus der New Yorker Börse ließ am Montag den Dow-Jones-Aktienindex um 6,4 Prozent absacken. Auch die Aktien von gewinnträchtigen, wirtschaftlich stabilen Unternehmen wie Microsoft wurden brutal fallengelassen. Der Absturz hat den Kurs des Dow auf den Stand von letztem Jahr zurückgeworfen.

Eine Menge Anleger seien nur in die Börse eingestiegen, weil die Kurse über Jahre scheinbar garantiert stiegen. Diese gar nicht hartgesottenen Investoren steigen, wenn die Richtung der Kursentwicklung sich umkehrt, schleunigst wieder aus, so die Erklärung der Börsianer. „Man kann nicht auf der halben Welt die Wachstumschancen wegbrechen sehen und vergnügt weiter US-Aktien kaufen“, ergänzt der New Yorker Investmentbanker Alan Kral. Bereits 38 Prozent der Weltwirtschaft stecken in der Rezession, hat die Forschungsabteilung der Deutschen Bank errechnet.

„Insgesamt gibt es zu viele Ähnlichkeiten zwischen der Krise in Asien und der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre“, malt die US- Forschungsfirma Standard & Poor's DRI den Teufel an die Wand: „Überkapazitäten in der Produktion, Abwertungen, kollabierende Immobilien- und Aktienmärkte, Bankenkrisen und politische Lähmung.“

Doch während die Angst vor dem Flächenbrand umgeht, der von Asien ausgehend Rußland und dann den Rest der Welt erfaßt, geht es den Menschen in den Industrieländern paradoxerweise nicht schlechter als zuvor, jedenfalls sofern sie nicht mit Aktien spekuliert haben. Die aktuellen Wirtschaftsdaten aus den USA zum Beispiel zeigen ein zwar niedrigeres, aber stetiges und inflationsfreies Wachstum sowie ein sinkendes Defizit in der Handelsbilanz.

Für Deutschland prognostizieren die meisten Experten ohnehin relativ geringe Auswirkungen der Krise – um 0,1 Prozent könnte sie das Wirtschaftswachstum verringern, schätzt die Investmentbank Goldman Sachs. Auf einmal zeigt sich, daß die Globalisierung auf der realwirtschaftlichen Ebene längst nicht so weit fortgeschritten ist wie in der Finanzwelt. Zwar meldete gestern die Genossenschaft Bayernland, daß der Export bayerischen Käses und Joghurts nach Rußland zum Erliegen gekommen sei. Aber insgesamt gingen im letzten Jahr lediglich 1,8 Prozent der deutschen Exporte nach Rußland, 4,5 Prozent in die asiatischen Schwellenländer und 2,3 Prozent nach Japan.

Für die USA hat Rußland wirtschaftlich gesehen noch viel geringere Bedeutung. Nicht einmal ein halbes Prozent der Ausfuhren ist für den russischen Markt bestimmt. Selbst im allerschlimmsten Fall, wenn die Exporte in die Krisenländer komplett wegbrechen, rechnet Standard & Poor's DRI nur mit einer milden Rezession in den USA und allenfalls Stagnation in den europäischen Ländern.

Warum dann die Aufregung an den Börsen? Es ist die schiere Angst vor dem Ungewissen. Die Angst vor einem Abwertungswettlauf, an dessen Ende tatsächlich eine Depression wie in den 30er Jahren stehen könnte.

Denn einerseits werden die Exporte eines abwertenden Landes billiger, was den Konkurrenzdruck für die Industrien in anderen Ländern erhöht. Umgekehrt verteuert eine Abwertung auch die Einfuhren, wie vor allem im importabhängigen Rußland die Menschen gerade erfahren müssen. Werten reihenweise Länder in aller Welt ab – vielleicht bald China, die osteuropäischen oder die lateinamerikanischen Staaten –, lösen sie dadurch eine Absatzkrise im Weltmaßstab aus. Die würde nicht nur zu Börsencrashs, sondern auch zu Massenentlassungen in aller Welt führen – fast wie damals in den 30ern.

Sinkende Preise ängstigen die Börsianer inzwischen fast noch mehr als steigende. Mit Inflation, sagt die Erfahrung, haben die Zentralbanker mittlerweile ja umzugehen gelernt: Sie brauchen nur die Zinsen hochzusetzten. Schlimm genug für die Börse. Aber Deflation und damit sinkende Gewinne und Entlassungen, da haben die Anleger keine Ahnung, was sie erwartet. Wegen der Unsicherheit lassen viele lieber die Finger von Aktien. Optimisten halten dagegen, daß die Abwertungen ja auch Vorteile haben. Vor allem Öl und Gas – wichtige Ausfuhrprodukte Rußlands – werden immer billiger. Der Rohstoffpreisindex der Investmentbank J.P. Morgan meldet einen Preisrückgang von 22 Prozent gegenüber 1997. Ohne Sorge vor Preisauftrieb können die Notenbanken in Europa und den USA trotz Wirtschaftswachstums also die Zinssätze unten lassen. Niedrige Zinsen aber sind günstig für die weitere Wirtschaftsentwicklung. Und weil sich die Geldanlage in festverzinslichen Anleihen dann nicht rentiert, greifen viele Leute vielleicht doch wieder zu Aktien – die Aktienkurse würden dann wenigstens auf mittlere Sicht wieder steigen.

Vor allem für die US-Wirtschaft wäre alles andere auch ziemlich schlimm. Denn es besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen dem großen Börsenkrach anno 1929 und heute: Damals besaßen lediglich drei Prozent der erwachsenen US-Amerikaner Aktien. Heute sind es 43 Prozent – mehr als doppelt soviel wie in Deutschland. Wenn nun das Aktienpolster der Konsumenten zu schrumpfen droht, wird die private Nachfrage, die den Motor der US-Konjunktur darstellt, einknicken – und damit die ganze Wirtschaftsentwicklung. Gerade veröffentlichten die US-Behörden besorgniserregende Zahlen: Zum ersten Mal seit zwei Jahren ist im Juli der private Konsum zurückgegangen.

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