Kommentar: German Angst
■ Auch die russische Krise wird Helmut Kohl nicht retten
Einst sangen die Roten Garden: „Bei stürmischer See hört alles auf den Steuermann.“ Und wie schrecklich tobt die See jetzt im Osten! Kehren die Kommunisten im Stechschritt an die Macht zurück, und das Reich des Bösen, wird es wiederkommen? Solche bangen Fragen stellte gestern in einem „Analyse“ betitelten Text niemand anderes als die Bild-Zeitung. Ein großes Fragezeichen auch dort, wo es altbacken-seriös zugeht, beispielsweise in Le Monde: „Kann die russische Krise Helmut Kohl vier Wochen vor der Wahl retten?“ Die Antwort vorweg – sie kann es nicht.
Dabei hat Pastor Hintze sich wirklich ins Zeug gelegt. Angesichts der drohenden Sturzflut komme „Deutschland die Führungsaufgabe als Stabilitätsanker“ zu. Wie immer auch diese Metapher zu entwirren ist, eins steht fest: Deutschland muß führen! Und wem fällt am ehesten die Führungsrolle zu, wer ist so treu in seiner Männerfreundschaft, wer in Osteuropa so beliebt, daß sein Vorname schon als Synonym für die Deutschen schlechthin gilt? Wer sticht schon kraft seiner Statur das windige Weichei Schröder aus? Niemand anders als unser Großer Steuermann.
Stimmt schon, die Deutschen haben Schiß. The Germans are really krank vor Angst, würde unser geschätzter Autor Andy Markovits sagen. Und „Angst“ war das dritte Wort nach „Papa“ und „Ball“, das der Erstgeborene eines ebenso geschätzten taz-Redakteurs zu artikulieren in der Lage ist. Bloß, diese Angst und dieses überwältigende Bedürfnis nach Sicherheit haben bereits ihren Ankergrund gefunden – den Boden der deutschen Verhältnisse.
Dahin ist die Zeit, wo ein auf CDU-Plakaten abgebildeter, stechäugiger Rotarmist dem Kanzler die Wählermassen in die Arme treiben konnte. Damals ging's ökonomisch aufwärts, es galt, den neuen Reichtum zu schützen, und so ganz unbegründet war die Angst vor den Moskowitern auch wieder nicht. Jetzt gilt, was im deutschen Normalfall immer galt: das Primat der Innenpolitik. Und dort sind Steuer, Steuermann und Navigationssystem längst ausgefallen. Wenn man eine zugegeben etwas abgelegene Parallele ziehen will: Dem Präsidenten Bush nutzte der Triumph über den Realsozialismus gar nichts. Mehr Gerechtigkeit war's, was die Leute wollten. Daß Schröder diese Sehnsucht ebenso frustrieren wird wie Clinton, wird am 27. September Kohl nichts nutzen. Christian Semler
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen