Die Natürlichkeit des Perversen

■ „Der Schrei der Seide“: Ein seltsamer, nicht uninteressanter Film über Kleptomanie und Fetischismus im Kino 46

Ein schäbiger, rostroter Damenhandschuh streichelt sehnsüchtig über einen vornehmen feuerroten Seidenstoff. Rost und Rot: Ein farblicher Stilbruch dokumentiert die Kluft zwischen fahlem Sein und glänzendem Schein, Wirklichkeit und Wunsch. Handschuhträgerin Marie zückt die Rasierklinge so gierig wie Hitchcocks Psychokiller die Messer. Dabei klaut sie doch nur im Kaufhaus den begehrten Stoff zum Träumen. Und wird gefaßt. Noch in der matt-graublauen Welt der Gefängnispsychiatrie schwärmt die merkwürdige Kleptomanin vom Onanieren mit leuchtender „elektrikblauer“ Seide – wieder diese Reibung zwischen matten Realitätsfarben und satten Stoffarben. Der Psychiater Gabriel lauscht der sonderbaren Delinquentin erst streng, dann neugierig, dann verliebt.

„Der Schrei der Seide“ von Yvon Marciano „führt in die lodernden Tiefen menschlicher Leidenschaft.“ Diese unfreiwillige Beleidigung des Films durch eine Züricher Zeitung ist zum Glück unzutreffend. Denn seine Sinnlichkeit ist eher seltsam denn prall. Der Filmverleih Salzgeber riet denn auch dem Kino 46, nach Möglichkeit weibliche Rezensenten ins Kino zu lotsen; die seien gegenüber so viel subtiler, schwüler Tragik aufgeschlossener. Aber auch Schwule sollen angeblich ein besonderes Faible für die französisch-belgisch-schweizerische Koproduktion entwickeln.

Ärgerlich sind eigentlich nur die ersten 15 Minuten. Da stochert Gabriel inquisitorisch und gefühllos in der Seele seiner verschüchterten, händeringenden, augenniederschlagenden Patientin herum – und der Zuschauer soll das nicht als Dokument einer verfehlten Psychiatrie wahrnehmen, sondern als prickelnd-erotisches Szenario goutieren. Doch zum Glück arbeitet sich dieser beamtenartige Psychiater und mit ihm der Film zügig zu interessanten Sexualtheorien voran: Maries Seidenfetischismus sei keine kaputte, verdrehte Variante der „normalen“ Heterosexualiät, sondern Natur. Sie liebt Seide einfach so und nicht aus Haß auf die Männer. Ein Ding an sich, das keiner Psychologisierung oder anderer Erklärungen bedarf. Diese Einsicht fällt Gabriel nicht allzu schwer. Entdeckt er doch in Marokko an sich selbst eine dubiose Vorliebe für verschleierte Frauen, die mindestens ebenso den Schleiern wie den Frauen gilt. Ähnlichkeit ist noch immer das beste Mittel zum Verständnis.

Der Clou des Films: Durch ihre seelenverwandte Dingbezogenheit rücken Marie und Gabriel einander näher, fühlen sich zueinander hingezogen und landen also doch – fast – ganz konventionell beim Mitmenschen. Der Stoff ist eine Art Vermittlungsglied. Das gemeinsame Fingerspiel mit Nadel und Faden an heroischen antiken Tunikas inszeniert die intim naherückende Kamera als eine Art Geschlechtsverkehr. Neben dem ungewöhnlichen Umweg Stoff spielt auch ein traditionellerer Umweg eine gewichtige Rolle: ein reger Briefverkehr. Wie bei den Romantikern um Bettina von Arnim finden die wahren Ekstasen am Schreibtisch statt, nicht im Bett. Nur konsequent also, daß dieser Film in einer Epoche lange vor lapprigen Baumwoll-T-Shirts und Internet-e-mail spielt, irgendwann im 19. Jahrhundert. Dutzende kleiner, hellblauer Briefkuverts pendeln heimlich zwischen den Liebenden hin und her. Die Übergabe dieser Briefe wird bewerkstelligt von Nonnen, vor einer vergoldeten Madonnenstatue. Manche Regisseure schrecken eben vor nichts zurück.

In der zweiten Filmhälfte stößt zum subtilen Genießen eigenartig unvermittelt ein großes Drama hinzu: Ohne Vorwarnung wird Augenmensch Gabriel mit Blindheit geschlagen. Die Erotik der seidenen Wallungen und die Trauer der Unheilbarkeit ergänzen sich aufs eigenwilligste. Die perfekte Mischung für alle unheilbaren Romantiker.

Dieser Film wendet sich weniger an das Hirn als an den Hormonkreislauf des Zuschauers. Und so ist er eben eine Frage der erotischen Vorlieben. Das beherzte Eintreten für sogenannte erotische Abweichungen macht diesen Film aber auch für profanere Gemüter zumindest interessant. B.Kern

Kino 46, 3.-5.9. 20.30 Uhr, 6.-8.9. 18.30 Uhr