Je fetter, desto friedlicher...

■ Kleine deutsche Wappenkunde zum Gebrauch für die Berliner Republik: Vom mageren Adler Rudolf I. über den flachköpfigen Vogel der Nazis bis zum behäbigen Wappentier unserer Tage

Berlin (taz) – Vorstehende Schauleiste zeigt, in zeitlicher Reihenfolge geordnet, fünf Adler im deutschen Wappendienst. Das erste Tier entstammt der Wende zum 13. Jahrhundert. Es wirkt ziemlich mager und angriffslustig, was auf die wieder aufsteigende Linie des Reiches unter der Herrschaft des ersten Habsburgers, eben Rudolf I., hinweist.

Adler Nr. 2 trutzt im Auftrag des Deutschen Reiches nach 1871. Er hat seinen Zwilling verloren, denn den Doppeladler, seit dem 14. Jahrhundert im Dienst des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, haben sich die Habsburger gekrallt. Das preußisch- deutsche Tier ist gut in Schuß, schließlich hat es sich Elsaß-Lothringen einverleibt. Trotzdem zeigt sich noch eine gewisse Dünnleibigkeit. Ein Hinweis darauf, daß es bereit ist, den deutschen Heeren vorauszuflattern.

Mit ähnlichen Absichten trägt sich Adler Nr. 3, kann sich aber mit seinem Vorgänger in keiner Weise messen. Diese Kreation des NS- Regimes ist entsetzlich abgemagert, und der Kopf weist eine bedenkliche, wenngleich für die Nazizeit typische Abflachung auf. Im Wehrmachtsdienst und – teils – an öffentlichen Gebäuden durfte er die Flügel ausbreiten und thronte auf dem Hakenkreuz. Letzteres wurde nach 1945 eilig herausgekratzt, der Adler blieb (manchmal) erhalten.

Adler Nr. 4 stammt von Ludwig Gies, zierte den Bundestag und folgte streng der Shakespeareschen Devise „Laßt fette Adler um mich sein“. Scharfsichtigen Beobachtern ist nicht entgangen, daß er mit einem Huhn weit größere Ähnlichkeit aufweist als mit seinem entfernten königlichen Artverwandten. Mit dieser verdeckten Nutztier-Symbolik wird eine Wende vom Hungrigen zum Saturierten, von der Angriffslust zur Beschaulichkeit vollzogen. Dieser Umstand erklärt die allgemeine Beliebtheit des Tiers unter Volksvertretern wie unterm Volk.

Mit Adler Nr. 5 hat der Architekt und Künstler Sir Norman Foster einen gefährlichen Weg eingeschlagen. Das projektierte Wappentier für den neuen Plenarsaal im Reichstag weist schon wieder eine Tendenz zur Abmagerung auf und beginnt sich seinen Vorgängern anzugleichen. Zwar sind offen aggressive Raubtierzüge noch nicht erkennbar, aber hier gilt wie sonst auch: Wehret den Anfängen! Deshalb muß dieser Entwurf zurückgezogen werden und die „Fette Henne“ wieder an ihren Platz zurückkehren. Wenn die Geschichte der deutschen Adler eine historische Lehre bereithält, dann diese – je fetter, desto ausgeglichener. Diese Beseitigungsaktion könnte von einer zweiten begleitet werden. Sämtliche Adler wurden dem deutschen Volk von seinen Herrschern geschenkt, was sie mit dem Reichstag teilen, dessen Portal die Inschrift ziert „Dem deutschen Volke“. Vielleicht könnte diese Dedikation ebenso unauffällig verschwinden wie Sir Normans Entwurf. Christian Semler