Kommentar
: Machtverschiebungen

■ Auch Clintons Moskau-Visite hilft Jelzin nicht mehr auf die Beine

Daß der reiche Onkel Bill bei seinem Kurzbesuch in Moskau sein Füllhorn über dem krisengeschüttelten Rußland ausschütten würde, hatte wohl kaum ein Russe ernsthaft erwartet. Jelzin, der während der Visite des US-Präsidenten wieder ein bißchen Staatschef spielen durfte, mag sich von Clintons Auftritt eine Stärkung seiner eigenen Position erhofft haben. Doch das Fazit ist eindeutig: nichts dergleichen. 1996 war das noch anders. Damals war Jelzins Duzfreund, Bundeskanzler Kohl, in Moskau eindrucksvoll dem bedrängten und unpopulären Präsidenten zur Seite geeilt, hatte seine Solidarität bekundet, um so einen Sieg von dessen kommunistischem Widersacher Gennadi Sjuganow bei den Präsidentenwahlen zu verhindern.

Zwei Jahre später regiert Jelzin noch immer, zumindest formal. Doch seine Rolle hat sich verändert. 1996 erschien Jelzin, wenn nicht als Demokrat par excellence, so doch zumindest als ein weitgehend berechenbarer Stabilisator. Dies und auch die Angst vor tiefgreifenden Veränderungen führten dazu, daß ihn die Mehrheit der Russen, wenn auch zähneknirschend, erneut ins höchste Staatsamt hievte. Das ist heute anders. Wenn die Duma diesmal ihre Drohung wahr macht und seinen Lieblingskandidaten Wiktor Tschernomyrdin auch in den beiden Folgewahlgängen als Premierminister durchfallen läßt, könnte Rußland in kurzer Zeit nicht nur ohne Regierung, sondern auch noch ohne Parlament dastehen.

Der Verdacht, zum letzten Mal von Jelzin in seiner Eigenschaft als Präsident empfangen worden zu sein, dürfte sich mittlerweile auch bei Clinton zur Gewißheit verdichtet haben. Davon zeugen nicht nur die Worthülsen und bemühten Lippenbekenntnisse zu weiteren Wirtschaftsreformen, an deren Realisierung Clinton unter Jelzin wohl kaum glauben dürfte. Vor allem hat der US-Präsident sich mit den potentiellen Anwärtern auf das Präsidentenamt getroffen. Besonders der Meinungsaustausch mit dem von westlichen Vertretern bislang lieber gemiedenen Sjuganow signalisiert die Erkenntnis, daß am Chef der Kommunistischen Partei – in welcher Funktion auch immer – künftig kein Weg vorbeiführt.

Dem krisengebeutelten Rußland hat dieser Gipfel so gut wie nichts gebracht. Als politisches Signal verstanden, bedeutet er: Die Ära nach Jelzin hat möglicherweise schon begonnen. Barbara Oertel