Gegenwart und Zukunft der Stadt als Schleudersitz

Nicht nur die räumlichen, sondern auch die sozialen Ränder der Stadt sollen in der Ausstellung „Baustop Randstadt“ in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) ausgeleuchtet werden. Doch die Kritik an der Stadt der Zukunft wird am Ende selbst Gegenstand des Kritisierten  ■ Von Uwe Rada

Die Zukunft der Stadt hat bereits begonnen. Nicht nur am Potsdamer Platz, der berlinischen Variante von Las Vegas, sondern auch dort, wo man Zukunft gar nicht vermuten würde. In den Reihenhaussiedlungen am Stadrand zum Beispiel. Ordentlich vom Nachbarn getrennt, parzelliert das Leben dort vor sich hin – im Haus und ums Haus und ums Haus herum.

Als „Schleudersitze“ hat der Philosoph der Geschwindigkeit, Paul Virilio, dieses „eigentlich Neue“ an der Stadt einmal bezeichnet. Virilio meinte damit nicht nur Flughäfen und andere Transitstätten, sondern auch die Schleudersitze des Sozialen, stapelbare Plastikstühle etwa oder runderneuerte Hollywoodschaukeln. Räumliche und soziale Dichte findet am Stadtrand nicht einmal mehr auf dem Weg ins Zentrum statt. Den Menschenmassen in der U- und Straßenbahn ziehen die Randstädter die Blechlawinen auf den Ein- und Ausfallstraßen vor. Wo sonst lassen sich Mobilität und Individualität besser zelebrieren als im Auto – selbst um den Preis der eigenen, kollektiven Bewegungsunfähigkeit.

Daß der Lebensalltag am Stadtrand mittlerweile auch das Zentrum erreicht hat, ist eine der Botschaften der Ausstellung „Baustop Randstadt“, die seit 28. August in den Räumen der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) in der Oranienstraße zu sehen ist. Darüber hinaus haben es sich die MacherInnen der Ausstellung – ein Zusammenschluß von Einzelpersonen und Gruppen, die politisch oder künstlerisch zum Thema Stadt arbeiten – vorgenommen, nicht nur die räumlichen Ränder der Stadt auszuleuchten, sondern auch die sozialen, die „blinden Flecken in der gegenwärtigen Repräsentation Berlins“. Entsprechend doppeldeutig ist der Titel der Ausstellung. „Randstadt“ ist eben nicht nur gleichbedeutend mit Stadtrand, sondern auch der Name einer Firma, die in Europa auf dem Gebiet der Zeitarbeit, Gebäudereinigung und Security marktführend ist.

Statt freilich die räumlichen, sozialen und sonstigen Rand- und Schieflagen der Stadtentwicklung in lesbaren Exponaten darzustellen, kommt die Kritik an der Zukunt der Stadt daher wie die Zukunft selbst: in hermetischen Codes und beliebig kombinierten Bild- und Textfolgen. So wird zum Beispiel auf der Tafel „Berlin nocheinmal“ ein „Opening early 1999“ versprochen. Im nur englischsprachigen Textteil läßt die Erwähnung des „Hauses Vaterland“ die Vermutung zu, daß der Potsdamer Platz bei diesem „Opening“ eine gewisse Rolle spielt. Auf der anderen Seite keimt der Verdacht, daß „Berlin nocheinmal“ in Las Vegas eröffnet werden könnte, als amerikanische Kopie eines ohnehin schon amerikanischen Vergnügungszentrums. Die Zukunft der Stadt als Spielsalon hätte freilich auch weniger kryptisch und textlastig dargestellt werden können.

Gleiches gilt für die Zukunft der Stadt als Shopping-Center. Daß mit Shopping-Malls und Einkaufszentren „der öffentliche Raum privatisiert wird“ und „andere Verhaltensweisen als Konsum kriminalisiert“ werden, gehört heute zu den Gemeinplätzen linker Stadtkritik und -szenarien. Doch die Akteure dieser Kommerzialisierung sind eben nicht nur Projektentwickler oder Sozialhygieniker, sondern auch die Konsumenten selbst.

Warum also nicht den Käuferinnen und Käufern in Shopping- Malls, Luxusmeilen, aber auch Tante-Emma-Läden fotografisch ins Gesicht schauen? Solche Großaufnahmen hätten mit Sicherheit nicht nur in die Sozialpsychologie, sondern auch in die politische Ökonomie dieser urbanen Zukunft mehr Einblick geboten als eine Übersichtkarte mit den aktuellen Einkaufszentren.

Die nicht nur suggestiven, sondern auch ironischen und kritischen Mittel der Fotografie im Zusammenhang mit der Beschreibung der Stadt und ihrer Zukunft haben die Ausstellungsmacher in einigen – seltenen – Fällen immerhin selbst vorgeführt. So spricht etwa der Fotoessay über „Wohnen und Arbeiten“ am Potsdamer Platz für sich. Statt teure Singleappartements und den dazugehörigen High-Tech-Arbeitsplätzen sieht man Baracken, Container und irgendwo in die Baustellenlandschaft gestellte Kunstleder(!)stühle.

Um so ärgerlicher ist die Textlastigkeit des Restes der Ausstellung, die damit zum Begleitprogramm für die gleichzeitig stattfindenden Veranstaltungen (siehe Kasten) degradiert wird. Als intellektuelle Zuspitzung der zentrifugalen Wirkkräfte in der schon heute lesbaren Zukunft der Randstädte mag die Ausstellung in der NGBK noch einigermaßend provozierend wirken, als Publikumsausstellung dagegen nicht. Das sehen wohl auch einige der Besucher so: „Ich finde die Ausstellung beschissen“, schrieb einer enttäuscht ins Gästebuch. Der nächste antwortete: „Na ja, beschissen finde ich übertrieben, aber ein bißchen viel für mein Hirn alles.“

Wider Willen erweist sich die Betrachterperspektive von „Baustop Randstadt“ damit selbst als Schleudersitz, avanciert die Kritik selbst zum Gegenstand des Kritisierten. Aber vielleicht ist das ja auch in der Zukunft so.

„Baustop Randstadt“ ist bis zum 11. Oktober in der NGBK in der Oranienstraße 25 täglich von 12 bis 18.30 Uhr zu sehen