Einige lächerliche Gedanken

Vielleicht erträgt man im Schreiben das Leben besser. Meint Wilhelm Genazino und schreibt einen Band mit Essays und einen neuen Roman: „Die Kassiererinnen“  ■ Von Werner Jung

In seiner Dresdner Rede „Das Exil der Blicke. Die Stadt, die Literatur und das Individuum“ skizzierte Wilhelm Genazino 1996 die Bezugspunkte seiner schriftstellerischen Arbeit. Das sind: die Stadt, „eine entleerte Stadt, die sich über Defizite fixieren lassen muß“, das Individuum, das sich der Stadt „als Folie für seine Reflexionsbildung“ annimmt, und nicht zuletzt der Akt des Schreibens als Möglichkeit zur Verortung im Koordinatennetz, zur Fixierung der Topographie. Bei allen Texten des Bandes „Achtung Baustelle“ – Aufsätzen, Essays, Reden und Glossen für die Frankfurter Rundschau – handelt es sich um Fundstücke, die die Probleme einer postmodernen Ästhetik und Poetik scheinbar anstrengungslos bedenken.

Bedrohte Individualität und Erfahrungsverlust

Ob Wilhelm Genazino über Marcel Proust, James Joyce oder Italo Svevo schreibt oder Fundstücke aus der Literaturgeschichte vorführt, immer kreist seine Denk- und Schreibbewegung um die bedrohte Individualität des modernen Subjekts, um den Begriff der Erfahrung beziehungsweise den des Erfahrungsverlustes und um das Schreiben. Das Schreiben, behauptet er, ist eine endlose Tätigkeit, die so lange dauern wird, „solange wir nicht wissen, warum wir schreiben und was Schreiben bedeutet“. Vielleicht, so heißt es weiter über das Rätsel des Autors, erträgt man im Schreiben überhaupt die Welt und das Leben einfach besser.

Möglicherweise. Liest man nun Genazinos neuen Roman „Die Kassiererinnen“, mag man sich an solche poetologischen Bekundungen erinnern. Auch hier geht es darum, eine Haltung auszustellen, eine Lebenseinstellung zu exerzieren. Das Personal ist bekannt, die Umgebung ebenso. Genazino hat sie in einer ganzen Reihe von Romanen seit der Abschaffel-Trilogie aus der zweiten Hälfte der siebziger Jahre – damals freilich noch unter gesellschaftskritischen Vorzeichen – behandelt: die Frankfurter Innenstadt zwischen Bahnhof, Prostitution, Würstchenbuden und Kaufhäusern samt den obligaten (Szene-)Kneipen, den darin Gestrandeten, den Eckenstehern und Randständigen, Lebenskünstlern und Flaneuren der Großstadt.

Bedeutungslose Augenblicke

Erneut ist der Erzähler ein namenloser, offensichtlich momentan in seinem Produktionsprozeß gehemmter Schriftsteller, der aber als genauer Beobachter – und das markiert einmal mehr die fremde Position des außenseiterischen Flaneurs – das Leben und die Umtriebigkeit seiner Mitmenschen im Alltag registriert.

Er freut sich über „ein Leben inmitten von bedeutungslosen Augenblicken“, geradeso wie seine langjährige Bekannte Wanda, von der es heißt, daß sie „klaglos durch die Welt“ geht. Beide kommen sich beim Tod von Wandas Vater näher und verbringen eine allerdings nicht sehr aufregende Nacht miteinander. Schluß, aus, Ende. Der Text ohne Höhepunkte schließt damit, daß der Erzähler wieder zurückfindet ins Schreiben: „Nur im Schreiben selbst steckte die Erlösung von den Deutungen des Schreibens.“ Therapie gelungen?

Von der Lächerlichkeit des Alltags

Doch das ist nur die eine Seite des Textes, seine Außenseite. Im Subtext aber geht es um weit mehr: um das Experiment, wie man eine spezifische Lebenseinstellung gewinnt und wie es sich mit ihr dann leben läßt. Der kürzlich verstorbene Hermann Lenz, der viele Gemeinsamkeiten mit Wilhelm Genazino hat, hätte an dieser Stelle hinzugefügt: Wenn du nur durchkommst! Denn um das Durchkommen geht es auch bei Genazino, der seinen Protagonisten vor die Aufgabe stellt, mit der vermeintlichen Lächerlichkeit des Alltags – genauer noch: mit seiner eigenen (in den Augen der anderen) Lächerlichkeit – klarzukommen und sie schließlich sogar als notwendige Bedingung für das „Voranleben im Alltag“ (Brigitte Kronauer) zu akzeptieren.

Auch dies führt Genazino in seinem neuen Roman vor, dessen Orientierung an der Soziologie – nicht zuletzt systemtheoretischer Provenienz, wenn da häufiger von „Beobachtung“ oder sogar von „Differenzgefühl“ die Rede ist – unübersehbar ist und der deshalb möglicherweise nicht allen Lesern gefallen wird. Die am Ende erreichte Haltung allerdings mag wieder ganz alteuropäisch (im Sinne Luhmanns) erscheinen und eine Hommage an Theodor Fontanes Realismus- wie Humorbegriff beinhalten, wenn es auf das heitere Über-den-Dingen-Stehen hinausläuft. „Wer lebt, dachte ich, mußte sich von Zeit zu Zeit ein paar lächerliche Gedanken machen. Und einige von ihnen auch noch aussprechen. Nein, es war noch einfacher. Wer lebte, dachte ich, mußte ... nein ... oder ... ja, es war...“

Aber Vorsicht! Im nächsten Genazino-Text könnte alles wieder ganz anders und überaus ähnlich sein.

Wilhelm Genazino: „Die Kassiererinnen“. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 1998, 155 Seiten, 32 DM

Wilhelm Genazino: „Achtung Baustelle“. Aufsätze. Schöffling und Co., Frankfurt am Main 1998, 182 Seiten, 36 DM