Eine Massenboheme auf E

■ Werden wir noch einmal so aufgeregt sein? Der Musikkritiker Simon Reynolds über Parallelen zwischen Rock- und Rave-Kultur und die Bedeutung von Drogenzyklen, den männlichen Kriegerkörper im Hardcore und die politis

taz: Wie kam es, daß du ausgerechnet die Hardcore-Szene ins Zentrum deiner jüngst erschienenen Geschichte der Rave-Culture gestellt hast?

Simon Reynolds: Die Idee kam mir, weil ich zuerst mit der Hardcore-Szene in Berührung kam. Und mir auffiel, wie verpönt diese Szene damals war, und wie wenig Respekt sie bekamen. Im Prinzip war ich damals, so um 1991 herum, zur falschen Zeit am richtigen Ort. Acid House war vorbei und die ganze Szene desorientiert. Bei den Vorbereitungen zu meinem Buch fiel mir dann auf, daß es gewisse Gemeinsamkeiten gibt zwischen den Sachen, die mir an Acid House gefallen hatten, und Hardcore. Zum Beispiel ein bestimmter Funktionalismus, der die Tracks vor allem in Verbindung mit Drogenkonsum Sinn machen läßt. Meistens ist die Musik sehr funktional, sehr drogenorientiert, meistens mit Verbindung zu irgendeiner Form von Arbeiterklassen- oder Unterschichtsfreizeitspaß. Für die meisten war der Begriff Hardcore damals allerdings negativ besetzt.

Doch genau dieses Kontinuum faszinierte mich, von Todd Terry an bis zu Gabba: Tracks, keine Songs, voll verrückter Effekte, jeder Track voll mit zehn oder zwölf Ideen, Sirenen, Krach und jede Menge billiger Effekte, um die Menge auf der Tanzfläche zu bewegen.

Trotzdem erstaunlich, wie sich jemand Ende Zwanzig, mit einer Karriere als Rockkritiker hinter sich, ausgerechnet für Hardcore und Working-Class-Spaß interessiert.

Was mich faszinierte, war die Haltung, so zu leben, als gebe es kein Morgen. Der Hedonismus. Und dazu gehörte Slang, eine bestimmte Haltung – all das, was den Hardcore-Raver ausmachte. Parallel habe ich natürlich gesehen, daß sich viele zerstörten und daß dieser Lifestyle nur einige Jahre lang funktioniert. Trotzdem war ich sehr davon mitgenommen. Die Leute waren, wie es in einem Pulp- Song heißt: „Burning so bright“. Dieses Brennen und dabei so hell strahlen, das war etwas besonderes, all diese Energie, die verglüht. Die meisten hörten irgendwann auf, einige brannten aus, es war eine Massenboheme. Eine allgemeine Avantgarde. Keinem Hardcore-Raver ging es je um Bewußtseinserweiterung, es ging um den Kick oder den Rush oder den Buzz. Also Intensitäten. Raver suchen keine Transzendenz, sondern lokalen Drogenkonsum. Die Art und Weise, wie in der Hardcore- Szene das Wort „dark“ benutzt wurde, hörte sich fast an wie „Avantgarde“.

Die Art des Drogennehmens veränderte sich ja mit der Zeit. Für verschiedene Szenen vollziehst du ganz bestimmte, ähnlich ablaufende Drogenzyklen nach...

Zuerst ist da der Ecstasy-Honeymoon, der so etwas wie eine androgyne sexuelle Indifferenz produziert. Heterosexuelle Männer umarmen sich, der ganze kulturelle Raum des Clubs ändert sich. Ab einem gewissen Grad tritt dann jedoch eine Gewöhnung ein, meistens nach ungefähr zwei Jahren. Die Toleranz gegenüber dem Wirkstoff steigt, und die Raver nehmen immer mehr Pillen. Doch die Wirkung der ersten paar Male tritt immer seltener ein, dafür schlägt das Amphetamin in den Ecstasys immer stärker durch. Viele wechseln dann ganz zu Speed über, was ja auch billiger ist. Ecstasy-Szenen werden zu Speedfreak-Szenen. Die Musik wird schneller und härter.

Dieser Drogenkonsum ist ja nicht nur an dazugehörige Musik gebunden. Auch das Körpergefühl und das Selbstverständnis der Szene verändert sich, vor allem das des männlichen Teils...

Ecstasy führte zunächst einmal zum Aufbrechen des männlichen Körperpanzers und zu einer Art Feminisierung des Manns. Oft sogar zu so etwas wie einer infantil organisierten Sexualität. Deshalb dann auch die weiten Hosen oder die Schnuller oder die Kindermelodien. Oder Samples in Stücken, die eine Verbindung herstellen zwischen Süßigkeiten und Pillen. Wie Smart-E's „Sesame's Treet“. Smartie war nicht nur die Schokoladenpille, sondern auch ein Slangausdruck für ein gutes E.

Als jedoch das Amphetamin stärker wurde, änderte sich das. Der männliche Körper wurde zu einem Kriegerkörper. Samples kamen nun aus Actionfilmen. Goldie zum Beispiel sprach davon, auf 72- Stunden-„Missions“ zu gehen, was wahrscheinlich nichts anderes bedeutete, als tagelang alle möglichen Drogen zu nehmen und im Studio zu sitzen oder von Club zu Club zu ziehen. Die jungen Produzenten, mit denen er arbeitete, nannte er „Prototypen“, als kämen sie aus Waffenentwicklungsabteilungen. Einer seiner Tracks hieß „Terminator“. Und der Jungle-DJ Grooverider bezeichnet sich noch heute als „Soldier“. Auch in der Brooklyner Hardcore-Szene tauchte irgendwann militärisches Vokabular auf. Und in der Gabba- Szene hießen die Stücke „Mindwar“ oder „Locked On Target“. Peace, Love & Unity verändert sich in eine Form Kriegerkameradschaft, in der Frauen eigentlich keinen Platz haben. So gab es einen Gabba-Track der Formation Sperminator: „No women allowed“.

In den letzten Jahren hat sich noch einmal alles verändert. Mit dem Aufkommen von Speed Garage hat sich die ganze Club-Szene stark resexualisiert, was nicht zuletzt daran liegt, daß, wenn es heute eine zentrale Droge gibt, es Kokain ist. Überall, wo Ecstasy dich in einen androgynen Engel verwandelt hat, hat Kokain den gegenteiligen Effekt. Es macht einen zu einer Maschine, die ständig nach mehr verlangt und jeden möglichen Appetit stimuliert. Wo Ecstasy dich für Stunden wunschlos glücklich machte, schickt einen Kokain in den reinen Konsum, den Wunsch nach mehr.

Du läßt im Buch das Stichwort von den „Politics of E“ fallen. Wie, glaubst du, sehen die aus?

Am Anfang sieht es immer so aus, als sei eine neue Jugendkultur die aufregendste Sache der Welt. Es müßten nur alle so draufkommen, und sie könnten die Welt retten. Doch dann wird diese unglaubliche Energie kanalisiert. Es werden immer noch unglaublich viele Pillen geschluckt, aber dieses utopische Moment, die Illusion eines anarchistischen Paradieses – man schaut sich in die Augen und lächelt –, ist verschwunden. Heute hat die E-Kultur eher die Funktion von sozialer Kontrolle und ist ein Freizeitknast. Die meisten Leute in Clubs sind entweder betrunken oder auf Koks oder komplett bedient auf allen möglichen Drogen auf einmal. Auch der Slang hat sich verändert: Es heißt nicht mehr „being loved up“, heute ist man „messy“, will sagen: auf allen möglichen Drogen, und nicht mehr in der Lage, wirklich koordinieren zu können.

Wenn es um Rave und ein Moment politischer Utopie geht, schreibst du vor allem über die englische Landfahrer-Rave-Szene oder über die Londoner Piratensender...

Sowohl die Landfahrer-Raves als auch die Piratensender eröffneten für eine Weile so etwas wie autonome Zonen. Ich hatte damals Glück, mit Freunden zu diesem legendären Rave in Castlemorton zu fahren, den ich auch in meinem Buch beschreibe und der in England für so großes Aufsehen sorgte. Es war wie ein mittelalterliches Lager, ein riesiger Nomadentreff aus Zelten und Caravans und Bussen. Keine Security, nicht einmal Beleuchtung, alle hatten Taschenlampen dabei, und so ging man durchs Dunkel, es gab auch keine Toiletten – extrem chaotisch und primitiv.

Es war ein Moment der Selbstorganisation, zu einem Zeitpunkt, als die ganze Rave-Szene sich stärker und besser organisierte und Clubs teurer wurden. Auch darauf war es eine Reaktion: Die Veranstaltungen kosteten nichts, es ging höchstens jemand mit einem Eimer herum, um Geld für die Generatoren einzusammeln. In einer bestimmten Art öffnete sich für eine Weile ein Raum funktionierender Anarchie.

So wie auch durch die Londoner Piratensender?

Ja, mit den Piratensendern war es ähnlich. Es gab eine radikale Anonymität. Man wußte nie, was das für Tracks waren, weil die DJs es nie sagten, aber das machte die Sender nur noch stärker. Da sprach eben nur die Szene, losgelöst von individuellen Künstlern. Und die Tracks selber waren ja aus anderen Tracks zusammengemischt, diese Sender funktionierten extrem rhizomatisch. Es gab kein Zentrum, keine Hierachie, nur endlose Verschachtelungen und endloses Wachsen. Und nicht nur die Musik – auch das MCing. Die MCs hörten sich an, als wären sie besessen, als wären sie Schamanen, wie dadaistische Klanggedichte, fast vollkommen losgelöst von Inhalten. Sie sagten ja nicht viel mehr als „Der DJ ist klasse, wir sind klasse, Jungle ist klasse, wir sind high auf E, wir sind mächtig drauf“. Alles eigentlich sehr einfach, aber das brachten sie in endlosen Variationen, der ganze Slang war äußerst hybrid.

In einem sehr kontrollierten Raum wie dem Radiospektrum erzählten diese Piratensender ihre kleinen lokalen Geschichten, die von Drogen oder Verbrechen handelten. Hinter den Sendern stand ein enormer Enthusiasmus. Wahrscheinlich machte irgend jemand am Ende doch ein bißchen Geld, die meisten Leute steckten jedoch ihre Energie hinein, um eine Community zu etablieren. Eine Community jedoch, die nicht geographisch faßbar ist, sondern eine, die sich über ganz London verteilt.

Du ziehst Parallelen zwischen der Geschichte des Rock und der des Rave – wie muß man sich die vorstellen?

Ich bin mit Rock aufgewachsen und war ewig Rockkritiker. Ich glaube, daß man die ganze Rave- Formation auch als eine Wiederholung der Geschichte des Rock 'n' Roll sehen kann. Disco und Funk und all die Musik, die House vorbereitet hat, kann man parallelisieren mit den Musikstilen der Vierziger und Fünfziger, wie Blues und R'n'B, die sich dann zu Rock 'n' Roll kristallisieren – mit Kraftwerk vielleicht in der Rolle des Bluessängers Robert Johnson. All diese Sachen kulminierten dann Mitte der achtziger Jahre in einer wilden Tanzmusik, einem bestimmten Rhythmus.

Ganz ähnlich den Fünfzigern, wo auch der Beat im Rock 'n' Roll das war, was die Eltern schockte, die Angst vor diesen Urwaldrhythmen bekamen. Als die Acid- House-Phase zu Ende ging, hielt ein gewisses künstlerisches Element Einzug: Die Musik nennt sich „progressiv“, sie wird psychedelischer, die Produktionen werden besser, die Studios größer. Auf einmal werden Alben produziert, vorher gab es nur Maxis: Die Musik wird komplizierter. Aber zur gleichen Zeit entsteht Hardcore, parallel zum Aufkommen des Heavy Metal Ende der Sechziger. Hardcore nimmt einige Elemente von House und Techno, isoliert sie und übertreibt sie – ganz ähnlich wie damals Black Sabbath.

Und jetzt, Ende der Neunziger, gibt es ein ähnliches Gefühl der Stagnation, wie im Rock Mitte der Siebziger. Niemand weiß, wie es weitergehen soll – ist vielleicht alles vorbei? Werden wir noch einmal so aufgeregt sein? Interview: Tobias Rapp