Cannabis als Heilmittel

Marihuana wirkt nicht nur auf die Psyche. Die Inhaltsstoffe von Cannabis können auch zur Vorbeugung von Hirnschäden bei Schlaganfallpatienten und neurologischen Erkankungen genutzt werden  ■ Von Franjo Grotenhermen

Meistens macht er sich mit einer plötzlich halbseitig auftretenden Lähmung bemerkbar, auch Bewußtlosigkeit oder Sprachverlust können auftreten, je nach betroffener Hirnregion. Etwa 150.000 Menschen erleiden in Deutschland jährlich einen Schlaganfall, ein Drittel davon sterben an der Erkrankung, weitere etwa 50.000 bleiben dauerhaft behindert. Medikamente zur frühzeitigen Begrenzung der gesundheitlichen Schäden gibt es bisher kaum.

Zwar befinden sich weltweit etwa hundert Substanzen in der Erprobung, jedoch wurde bislang kein Präparat als Medikament zugelassen, das einem Nervenzelltod vorbeugt oder ihn gar verhindert – und wenig Nebenwirkungen aufweist. Dabei sind die ersten Stunden und Tage nach dem Anfall von eminenter Bedeutung für den weiteren Krankheitsverlauf.

Nach Forschungsergebnissen von Aidan Hampson und Kollegen am US-amerikanischen Nationalen Institut für seelische Gesundheit in Maryland, die jüngst in den Proceedings of the National Academy of Sciences veröffentlicht wurden, erscheinen zwei natürliche Inhaltsstoffe der Hanfpflanze (Cannabis sativa) als aussichtsreiche Kandidaten für diese Aufgabe. Sowohl Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC), das für die charakteristischen psychischen Marihuanawirkungen verantwortlich ist, als auch das nichtpsychotrope Cannabidiol (CBD) hemmen bestimmte toxische Prozesse, die für den Tod der Nervenzellen nach einer Ischämie, also Durchblutungsstörungen und damit der Minderversorgung des Gehirns mit Sauerstoff und Glukose, in hohem Maße mitverantwortlich sind.

Eine Schlüsselrolle bei der Zellschädigung kommt der übermäßigen Ausschüttung des Nervenerregerstoffes Glutamat zu. Die Folge: Überaktivierung verschiedener Rezeptoren, massiver Einstrom von Kalzium in die Zellen, Aktivierung verschiedener Enzyme und Bildung freier Radikale. Auch Entzündungsprozesse tragen zum Zellschaden bei.

Diese Reaktionskette kann auch bei anderen Krankheiten ausgelöst werden: Durch eine lokale Durchblutungsstörung, wie beim Schlaganfall, durch eine globale Durchblutungsstörung nach einem Herzstillstand, aber auch durch isolierten Sauerstoffmangel bei Atemstillstand oder Kohlenmonoxidvergiftung, durch einen isolierten Glukosemangel bei Insulinüberdosierung sowie durch einen traumatischen Hirnschaden nach Schädelverletzungen. Alles Erkrankungen, bei denen Cannabisstoffe also helfen könnten.

Nach Aussagen von Hampson waren die ersten Beobachtungen mehr ein Zufallsbefund als das Ergebnis zielgerichteter Forschung. Seine Arbeitsgruppe setzte Kulturen von Nervenzellen hohen Glutamat-Konzentrationen aus und ermittelte anschließend den Grad der Zellschädigung. Sowohl der Zusatz von CBD als auch von THC verringerten deutlich und in gleichem Umfang die toxische Glutamat-Wirkung.

Zudem erwiesen sich die beiden Cannabinoide als starke Antioxidanzien. Lebende Zellen verwenden leicht oxidierbare Substanzen wie die Vitamine C und E als Antioxidanzien, um wichtige Zellstrukturen, wie das genetische Material, Proteine und Zellmembranen vor der zerstörerischen Kraft freier Radikale zu schützen. Die Vitamine geben ein Elektron ab und machen so die freien Radikale, die bei Durchblutungsstörungen vermehrt gebildet werden, unschädlich. In physikalischen Modellen erwiesen sich Cannabidiol und THC als gleich wirksame Antioxidanzien.

Auch in Nervenzellkulturen konnte die antioxidative Wirkung von Cannabidiol nachgewiesen werden. Bei gleicher Konzentration war CBD etwa doppelt so wirksam wie die Vitamine C und E. Aus klinischen Studien zur Untersuchung anderer therapeutischer Cannabidiol-Wirkungen ist bereits bekannt, daß CBD selbst in hohen Dosen von täglich 300 bis 600 Milligramm sehr gut verträglich ist. Außerdem wirkt Cannabidiol entzündungshemmend, eine weitere wünschenswerte Eigenschaft für den Nervenschutz bei Durchblutungsstörungen. „Wir haben hier etwas, daß die Blut-Hirn-Schranke leicht überwindet, eine niedrige Toxizität aufweist und offensichtlich in Tierversuchen funktioniert – also denke ich, daß wir eine gute Chance haben, Menschen mit dieser Substanz zu helfen“, resümierte Hampson.

Bereits Anfang der neunziger Jahre wurde bekannt, daß das synthetische Cannabinoid HU-211, auch Dexanabinol genannt, im Tierversuch eine wirksame nervenschützende Substanz bei Mangelsituationen des Gehirns darstellt. Dexanabinol ist eine im Labor entwickelte Variante natürlicher Cannabinoide mit leicht veränderter Molekülstruktur. Es hemmt ebenfalls die Glutamat-Toxizität, wirkt antioxidativ und entzündungshemmend. In einer wissenschaftlichen Publikation aus dem letzten Jahr ist begeistert von einer „einzigartigen multimechanistischen“ Substanz mit „potenter nervenschützender Wirkung“ die Rede.

Tatsächlich geben die bisherigen experimentellen Erfahrungen mit HU-211 Grund zur Hoffnung, daß sich nicht nur marginale therapeutische Effekte bei Durchblutungsstörungen erzielen lassen, sondern möglicherweise deutlich der Krankheitsverlauf beeinflussen läßt. Jetzt zeigt sich, daß der synthetische Stoff in dieser Hinsicht nicht einzigartig ist, sondern daß viele andere Cannabinoide gleichartige Kräfte entfalten, darunter die in der Pflanze natürlich vorkommenden Wirkstoffe. Ein Vergleich von THC und Cannabidiol mit HU-211 bewies gleich starke antioxidative Eigenschaften. HU-211 befindet sich bereits in einem fortgeschrittenen Stadium der Arzneimittelprüfung.

Phase-I-Studien, bei denen die Verträglichkeit unterschiedlicher Dosen in einer Testgruppe von 27 gesunden Freiwilligen untersucht wurde, sind abgeschlossen. Die intravenöse Gabe von HU-211 wurde in allen getesteten Dosierungen bis zu 200 Milligramm ohne relevante Nebenwirkungen vertragen. Zur Zeit werden Phase-II- Studien an Kranken durchgeführt. Phase- III-Studien mit tausend Patienten, in der die Wirksamkeit der Dexanabinol-Gabe im Vergleich mit anderen Behandlungen verglichen werden soll, befinden sich in der Planung. Eine Zulassung als Arzneimittel wird für das Jahr 2000 erwartet.

Cannabidiol hat wesentlich schlechtere Chancen, als Medikament in die Apotheken zu gelangen, denn es ist nicht patentierbar. Das deutsche Arzneimittelgesetz und vergleichbare Gesetze in anderen Ländern verlangen vor der Zulassung einer Substanz als Medikament Unbedenklichkeits- und Wirksamkeitsprüfungen, zunächst an Tieren und schließlich am Menschen. Die meistens sehr kostenaufwendigen Studien mit vielen Patienten, die Gelder in mehrstelliger Millionenhöhe verschlingen, werden im allgemeinen von pharmazeutischen Firmen finanziert. Diese erhoffen sich nach der Zulassung des neuen Mittels eine Refinanzierung durch die Gewinne – bei einem monopolgestützten Preis.

Ein nichtpatentierbares Mittel ist dagegen wenig lukrativ, da Konkurrenzfirmen Mittel mit dem gleichen Wirkstoff auf den Markt bringen können. Die prinzipiell sehr begrüßenswerten Grundsätze des Arzneimittelgesetzes zur Anwendungssicherheit und Wirksamkeit von Medikamenten führen dazu, daß Naturprodukte unter dem Druck rein marktwirtschaftlicher Gesetzmäßigkeiten vergleichsweise geringere Chancen haben – paradoxerweise auch dann, wenn sie möglicherweise sicherer und wirksamer sind.

Die Erforschung der nervenschützenden Wirkungen der Cannabinoide bei einer Unterversorgung mit Blut war mit einer weiteren bemerkenswerten Entdekkung verbunden: Diese Effekte sind nicht wie die meisten anderen bekannten Cannabinoidwirkungen von entsprechenden Rezeptoren abhängig. Bekannte Rezeptorwirkungen des THC sind etwa die Wahrnehmungsveränderungen beim Marihuanakonsum und die Veränderungen der Zeitwahrnehmung. Auch die bisher bekannten medizinischen Anwendungsmöglichkeiten des verbotenen Therapeutikums Marihuana – Muskelentspannung, Schmerzhemmung, Brechreizhemmung und Appetitsteigerung – basieren auf dem Andocken des Wirkstoffes THC an die in vielen Hirnregionen zahlreich vorhandenen Cannabinoid-Rezeptoren und deren Stimulierung.

Es gibt Hinweise darauf, daß die Glutamat-Toxizität möglicherweise nicht nur eine Rolle bei akuten Störungen, wie Hirninfarkt und Hirnverletzung, spielt, sondern auch bei langsam fortschreitenden Nervenerkrankungen wie dem Morbus Parkinson und dem Morbus Alzheimer. In vielen Köpfen hält sich dagegen zäh das Bild vom gefährlichen Marihuana und Haschisch, das zur Zerstörung von Nervenzellen und zum Hirnabbau führt – eine These aus den siebziger Jahren, die seit langem widerlegt ist. Auch sonst haben wissenschaftliche Studien immer wieder das geringe körperliche Schädigungspotential natürlicher Cannabisprodukte nachgewiesen, sieht man einmal ab von unerwünschten Effekten auf die Schleimhaut der Atemwege, wenn die Droge geraucht wird. Die gesellschaftliche Ächtung der Pflanze jedoch hat erhebliche Auswirkungen auf die Erforschung ihres therapeutischen Potentials und dessen medizinische Anwendungsmöglichkeiten.

Der Autor ist Mitarbeiter des nova-Instituts, Hürth im Rheinland, und Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin