Rote Fahne oder Schokolade

Liana Millus „Die Brücke von Schwerin“ ist die biographische Erzählung von der Rückkehr einer Überlebenden aus dem Frauenlager in die Welt nach Auschwitz  ■ Von Michael Westphal

Eine beinahe gespenstische Abwesenheit der Täter kennzeichnet Liana Millus Erzählungen „Der Rauch über Birkenau“. 1997 sind sie ins Deutsche übertragen und vielfach beachtet worden. Auch die Erzählerin selbst, Häftling im Frauenlager von Auschwitz, war dort auf merkwürdige Art abwesend. Ihr Überleben ließ sie hinter diejenigen zurücktreten, deren Schicksal sie erzählte und denen dieses Glück versagt blieb. Ihr Anliegen, zu bezeugen, was wo geschah, wird schon durch den Titel des Buches signalisiert: „Der Rauch über Birkenau“, vor dem es kein Ausweichen gab, war die Emission einer technokratischen Vernichtungsstätte, die ihre Spuren in Luft auflösen wollte.

„Die Brücke von Schwerin“ ist wie „Der Rauch über Birkenau“ ein Erinnerungstopos. Diesmal bündelt die Autorin darin nicht die Geschichten der anderen, sondern die eigene. Nun ist Liana Millu demonstrativ anwesend und meldet sich aus Auschwitz zurück.

Zunächst ist diese Brücke jedoch ganz gegenständlich, also topographisch zu verstehen. Sie zu erreichen machen sich die Überlebenden aus den Konzentrationslagern und die Versprengten des Krieges auf. Deutschland ist inzwischen von den Siegermächten in unterschiedliche Zonen aufgeteilt. Schwerin bestimmt den weiteren Status der Flüchtlinge: „Alle Slawen nach Osten, alle Westeuropäer nach Westen. Schauplatz war die Brücke bei Schwerin, für uns der nächste Ort an der Demarkationslinie.“ Und es kursiert das Gerücht: „Dort standen auf der einen Seite die Russen mit der roten Fahne und der Blaskapelle, auf der anderen die Amerikaner oder Engländer mit Zigaretten und Schokolade.“

Die Brücke anzusteuern ist nur zu Fuß und etappenweise möglich. Wie sich alle Bewegung auf diesen strategischen Scheitelpunkt hinbewegt, so organisiert sich auch der Erzählfluß in Liana Millus Bericht. Der Rhythmus des Schreibens wird immer wieder durch imaginäre Rekonstruktionen, Haltepausen bestimmt. Sie führen in die Kindheit und Jugend nach Italien, wo Elmina, die mit Millu identische Ich-Figur, statt eines sehnlich erwarteten Jungen geboren wird, bei den Großeltern aufwächst, sich zur Lehrerin ausbilden läßt, wo sie ihre erste (körperliche) Liebe erfährt, eine traumatisierende Abtreibung vornehmen läßt, wo sie von Fossoli aus schließlich nach Auschwitz deportiert wird und dort das „I“ für Italien auf dem „Judenstern“ tragen muß.

Schwerin nur langsam näher kommend, werden diese Reflexionen von Momenten aus dem Lager eingeholt. Auch das Gespräch mit ihren Begleitern kehrt immer wieder dorthin zurück: Auschwitz ist greifbarer und konkreter als jeder gegenwärtige Ort. Die italienische und die unmittelbare Vergangenheit ist zugänglicher als die ungewisse Zukunft, die vor und erst recht hinter der Brücke von Schwerin liegt: „,Du wolltest in Birkenau ja sogar Menschenfleisch essen! Ich erinnere mich genau, was du mit dieser Ungarin besprochen hast, wie die Kannibalinnen!‘ [...] Das stimmte. Doch Birkenau gehörte jetzt der Vergangenheit an, darum meinte ich bekümmert, das seien doch nur Spielereien gewesen, um uns während des Appells die Zeit zu vertreiben [...] und wenn wir die dicken Hintern der Küchenfrauen und gewisser Kapos vorbeiwackeln sahen, berieten Aergi und ich, von welcher wir uns am besten ein paar zarte Scheiben herunterschneiden könnten.“ Auf der letzten Etappe wird Elmina vom Holländer Willem begleitet. In einem Streit mit Deutschen, die den beiden KZ-Überlebenden mißtrauisch begegnen und ihnen Eßbares vorenthalten, stirbt Willem an einem Schwächeanfall. Vereitelt ist so auch ein Neuanfang, der sie gemeinsam nach der Brücke von Schwerin erwarten sollte. „Krepieren“, so muß Elmina von einem Franzosen erfahren, „wo du endlich nach Hause kannst, das ist ein Scheißpech! [...] Das ist doch das Schlimmste! Da hätte man auch gleich im Lager krepieren können!“

Ohne die Aufladung über Gebühr strapazieren zu wollen, steht die Brücke von Schwerin – wie so viele andere Brücken nach 1945 – auch als Sinnbild: als allegorischer, aber gleichermaßen authentischer Verkehrspunkt, der über den individuellen gescheiterten Weg und die zerstörte Hoffnung der Ich-Figur (der Mensch des Lagers) hinausweist und sich auf die Erfahrung von Leid und Schrecken richtet, wie sie die Naziherrschaft über Europa ausbreitete. Die eigenen biographischen Spuren zeichnet deshalb die heute 85jährige Millu auf der europäischen Landkarte nach: Vom unbescholtenen Ardenza und Montolivo, von Genua und Venedig führt der Weg ins karge schlesische Auschwitz.

So disparat, wie die Brücke von Schwerin am Ende des Krieges auftaucht, so stellt sich auch das damalige Europa dar: „Und endlich sah ich sie“, heißt es auf der letzten Seite. „Es war absolut nicht die wunderschöne Brücke aus meinem Traum. Kaum konnte man das eine Brücke nennen. Es war eher eine Art Übergang; die Straße führte über eine wenige Meter tiefe Senke voller Steine, nicht das kleinste bißchen Wasser floß darin. ,Ist das die Brücke, wo die Engländer uns abholen?‘ fragte ich ungläubig einen Mann in meiner Nähe. Und der nickte, ja, das sei sie.“

Liana Millu: „Die Brücke von Schwerin“. Kunstmann Verlag, München 1998, 208 Seiten, 32 DM