Moskau, Bühne frei!

Ein Bilderbogen aus der russischen Hauptstadt zwischen Alltag und Theaterinszenierung  ■ Von Rolf Kemnitzer

Wogegen ich den ganzen Flug lang gekämpft habe, über Moskau passiert es: Ich fülle die bereitliegende Tüte. Die Stewardessen der Aeroflot sehen mich mit offenem Ekel an und zeigen schlechtgelaunt auf den Abfallbehälter am Ende der Passagierreihen, als wäre ich es, den sie dort hineinwünschten. „Welcome to Moscow!“ sagt der Pilot.

Ludmilla ist eine breite Frau an die Sechzig, die die Welt mit aufgerissenen Augen sieht. Dicke Brillengläser verstärken den Eindruck. Aufgeregt winkt sie aus der Menge hinter einem Absperrgitter in der Ankunftshalle, als sei sie meine letzte Rettung. Weil das Flugzeug Verspätung hat, wartet Ludmilla seit zwei Stunden, aber sie verliert darüber kein Wort. Schon umschwärmt uns die russische Mafia, die hier die Taxibranche beherrschen soll. Ich lehne dankend alle Beförderungsangebote ab, während Ludmilla die Männer gar nicht beachtet. Unverletzt verlassen wir das Hauptgebäude und springen über ein Schlaglochfeld hin zu einer Reihe privater Kleinbusse. Ich solle nicht deutsch reden, sonst würde es teurer. Für ein Fünfzigstel des Preises, den wir im Taxi bezahlt hätten, werden wir ins Zentrum chauffiert. Die trüben Seitenscheiben verschmieren die vorstädtische Ödnis in ein mattes Grau, das hier und da von Werbewänden gesprenkelt ist. Riesige Schönheiten lächeln auf Moskau herab. „Ein vielversprechendes oder ein höhnisches Lächeln?“ frage ich Ludmilla.

Sie ärgert sich nur, da die meisten Plakate lateinisch statt kyrillisch beschriftet sind, obwohl sie alles andere als eine Patriotin sei. Drei Jahre zuvor war ich mit Ludmilla in Berlin unterwegs. Ich habe mich über ihre Angewohnheit gewundert, sich während unserer Spaziergänge immer ein wenig hinter meiner Schulter zu verstecken, obwohl sie doch sonst eine selbstbewußte Frau ist. Scheu vor der fremden Stadt, dachte ich, doch auch in Moskau geht sie, als suche sie Deckung hinter mir.

Vor einem U-Bahneingang verkauft eine Rentnerin drei Blumen, die sie irgendwo gepflückt haben muß. Ich lächle der Grauhaarigen mit dem steinernen Gesicht aufmunternd zu. Schnell streckt sie mir eine Blume entgegen. Ich kaufe.

In einem Fußgängertunnel kauert ein junger Mann, kahlgeschoren, barfüßig, zerlumpt, mit einer blutigen Wunde an der Stirn. Er bemerkt meinen schockierten Blick, und nun bin ich es, dem aufmunternd zugelächelt wird. Als er den Arm nach mir ausstreckt, weiche ich zurück, doch dann öffnet er bettelnd die Hand. Ich gehe schnell weiter.

„Die Moskauer U-Bahn“, erklärt Ludmilla, „stellt eine der wenigen gelungenen Selbstinszenierungen des sozialistischen Staates dar. In den zwanziger Jahren arbeiteten die besten Architekten und Bildhauer, koste es, was es wolle, mit den besten Materialien, die aus dem Riesenreich herbeigeschafft werden konnten. Hunderte Arbeiter verloren ihr Leben für ein Denkmal des Sozialismus.“ Auf mich wirken die prachtvollen Stationen wie Negative der vielen Kirchen, die in der Stadt zerstört wurden. Ludmilla: „Ja, statt in die Höhe, zum Licht hin zu bauen, gruben sie Kathedralen des Untergrunds.“

Ich habe das Gefühl, daß in den Straßen irgend jemand verfolgt wird, vielleicht wegen der allgemeinen Hast, vielleicht, weil kaum ein Passant nach rechts und links schaut. Es herrscht Mißtrauen, mehr noch Angst, die aber nicht gerichtet ist, sondern in der Luft liegt. Sichtbar ist nur die Jagd der Autos auf die Menschen, die mit sportivem Gleichmut reagieren. Ludmilla reißt mich einmal von der Straße, mir das Leben rettend, ohne die Erzählung einer Anekdote zu unterbrechen.

Meine Gastgeberin kann nur deshalb im Zentrum wohnen, weil sie eine Wohnung geerbt hat. Ihr Professorinnengehalt von umgerechnet dreihundert Mark langt gerade für Lebensmittel. Verlegen packe ich meine Mitbringsel aus: Kaffee und ein paar Delikatessen. „Meine Mutter und meine Großmutter haben eine Wette abgeschlossen“, sage ich. „Meine Mutter meint, ich würde hier verhungern, und meine Gromutter ist sicher, daß ich vorher erfriere.“ „Beides besser, als zu Hause an einem Schnupfen zu sterben“, kommentiert die Russin trocken.

Vom Küchenfenster aus sehe ich ein Restaurant mit Gärtchen. Dorthin will ich Ludmilla einladen, doch sie weist lächelnd auf die Preise: Eine Tasse Kaffee kostet acht Dollar. „Da unten an den Tischen sitzen unsere Neuen Russen. Ich dagegen, ich bin eine alte Russin.“

„Neue Russen“ nennt man hier die wirtschaftlichen Gewinnler der Wende. Ich kenne sie aus Berlin, weil sie dorthin gern zum Einkaufen fliegen. Vom selben Fenster aus kann man das Weiße Haus sehen, den russischen Parlamentssitz. Als von dort Rauch aufstieg, während des Putsches 1991, ging Ludmilla nicht mehr zur Arbeit, ließ Fernseher und Radio gleichzeitig laufen. „Aber unser Großer Alkoholiker hat zum Glück gesiegt“, meint sie. Darauf trinken wir einen Wodka.

Auf meinem ersten Spaziergang soll ich mir „die malerischen Seiten Moskaus“ ansehen. „Wenn es dunkel ist und man ein Auge zumacht, kann man schöne Ecken finden.“ Ludmilla zeigt mir, was vom alten Zentrum übrig ist.

Viele Häuser werden renoviert, auch das Verfallende hat seinen Charme, doch ich verfalle vor allem dem Charme des Anblicks weiblicher Schönheiten. Manche Moskauerinnen sind überraschend westlich gekleidet. Der Straßenrand eines postsozialistischen Elendsviertels kann zum Laufsteg werden. Den letzten Schrei der Mode ausstoßend, erhebt man sich über den Alltag, die Jüngeren zumeist auf Plateausohlen.

Der Boden eines Fugängertunnels ist in ganzer Breite aufgerissen. Drei dicke Bauarbeiterinnen, Gestalten einer Unterwelt, in verkrusteter Kleidung, eingedreckt bis ins Gesicht, wuchten einen rostigen Preßlufthammer herum. Plötzlich stampft er los. Der Tunnel bebt. Auch Ludmilla und ich beben. Sie lacht. Passanten eilen durch die Baustelle, als würden da Mädchen spielen.

Folkloristisches ganz anderer Art erlebe ich in einem der dreihundert Moskauer Theater. Gespielt wird eine russische Volksoper. Als russische Bauern verkleidete Sänger gehen in russischen Hütten von früher ein und aus. Dabei singen sie russische Lieder. Zwischendurch trachten sie sich nach dem russischen Leben. Die Sänger, die gerade nicht singen, lehnen an Strohballen und flüstern sich hin und wieder etwas zu, vielleicht russische Gedichte. Am Ende sind alle prima gelaunt, aber nicht, weil es zu Ende ist, sondern weil die Zuschauer zum Mitsingen ermuntert werden. Das ganze Theater schmettert begeistert russisches Liedgut.

Nach dem Theater gehen wir an zwei Bars vorüber, doch die sind teuer und menschenleer. Wie viele andere entscheiden wir uns für ein Bier vom Kiosk, das wir auf einer Holzbank am Rande einer Allee trinken. „Was lange die Partei verhindert hat“, sagt Ludmilla, „verhindert jetzt die Mafia: das Entstehen einer Kaffeehauskultur. Nur in den fünf McDonald's-Filialen können sich die Leute treffen. Da findet man kaum Platz, und um elf Uhr schließen sie.“ So hocke ich mit der betagten Professorin auf einer Banklehne und lasse mir das soeben erlebte Singspiel interpretieren: „Dahinter verbirgt sich ein unsicheres Tasten nach Traditionen, die Sehnsucht nach einer heilen Welt jenseits von Sozialismus und Coca-Cola.“

Als ich ein weiteres Bier vom Kiosk hole, spricht mich ein blonder Soldat an. Seinem gebrochenen Deutsch entnehme ich, daß sein Vater bei Berlin stationiert war und seine Mutter eine Deutsche ist. „Bruder!“ lallt er immer wieder und stellt mich als solchen seinen Kameraden vor. Nachdem ich mit allen auf ewige Völkerfreundschaft angestoßen und mich verabschiedet habe, verfolgt mich mein Bruder – einmal nennt er mich sogar Mutter – fast bis zur Bank zurück. Ich könnte ihm erzählen, daß auch mein Vater Besatzungssoldat war, allerdings ein amerikanischer, aber das vermeide ich, aus Furcht, wir könnten uns dann nie mehr trennen.

Noch nie habe ich solche Gastfreundschaft erlebt. Nicht nur, daß Ludmilla täglich russische Spezialitäten auftischt. Wenn sie in ihre Schule muß, besorgt sie mir jedesmal eine andere Begleitung, dazu einen Mann mit Auto, der mich hinfährt, wohin ich will. Um eine russische Familie kennenzulernen, besuche ich ihren Neffen Alexej.

Er wohnt in einem Plattenbauviertel am Rande der Stadt. Dagegen ist Berlin-Marzahn ein Kurort: überall Müll, braune Flächen statt Wiesen, aber vor allem diese Gesichter, auf die das Grau der Häuser abgefärbt hat. An den Briefkästen und Türen stehen keine Namen, nur Nummern. Ich wundere mich, daß der Aufzug funktioniert.

Da ich zu früh komme, treffe ich nur die Großeltern an, die in derselben Wohnung leben. Ich spreche kaum Russisch, und so sitzen wir bald schweigend voreinander. Neugierig werde ich gemustert. Von Ludmilla weiß ich, daß zwei Brüder des Großvaters im Krieg gegen Deutschland gefallen sind. „Schlüterstraße“, sagt der alte Mann plötzlich und wiederholt strahlend immer wieder: „Schlüterstraße! Schlüterstraße!“ Er muß einmal in Westberlin gewesen sein und erinnert sich jetzt an einen Straßennamen. Schließlich sage auch ich: „Schlüterstraße.“ Begeistert holt er aus irgendeinem Depot eine Flasche Wodka, um mit mir anzustoßen. Er gießt mir ein halbes Wasserglas voll.

Die erste Frage, die Alexej, ein kleiner Mann Ende Dreißig mit der Stimme eines Greises, mir stellt, ist, ob ich inzwischen verheiratet sei. Meine erste Frage: Wie es ihm finanziell gehe. Aus Berlin, wo er mit Ludmilla zu Besuch war, ist er vor fünf Jahren mit einem Dutzend Taschen, Koffern und Tüten weggefahren, weil man in Moskau kaum etwas kaufen konnte. „Du hast gesehen“, sagt er, „die Geschäfte sind jetzt voll, und Gehalt bekomme ich auch. Das Computerprojekt, an dem ich mitarbeite, ist für zwei Jahre von der Nasa gekauft worden. Ich bekomme dreihundertfünfzig Dollar im Monat. Das ist hier viel.“

Seine Frau bietet mir zur Begrüßung Sekt an und baut ein kleines Buffet auf. Alexej erzählt immer wieder von seinem Sohn, der dabei sei, die Schule zu beenden, und dem er einen Aufenthalt im Westen ermöglichen will. Dieser Sohn ist die Hoffnung der Familie. Auf dem Weg zur Toilette verirre ich mich ins Kinderzimmer und lerne ihn kennen.

Dimitri sitzt über seinen Schulbüchern. In sehr gutem Englisch schwärmt er von seinem zukünftigen Beruf. Er will Ingenieur werden, im Ausland studieren, aber danach in jedem Fall zurückkommen. Stolz zeigt er mir ein Mikroskop, das er bei einem Schülerwettbewerb gewonnen hat.

Mich überkommt das Gefühl, in ihm einen wirklich Neuen Russen kennenzulernen. Seine Unbeschwertheit, seine Begeisterung und sein Optimismus erscheinen mir in dieser Stadt als etwas Fremdartiges. Jetzt sitzt er noch im Kinderzimmer und bereitet sich vor, denke ich, schon ein wenig betrunken. Später sagt mir Alexej zum Abschied: „Meine Frau hat diese Ringe um die Augen, weil sie nicht mehr richtig schlafen kann. Sie fürchtet um Dimitri. Er muß bald zur Armee, und die ist hier ein Alptraum.“

Nach langem Klingeln öffnet uns die Enkelin eines berühmten Regisseurs, der hier vor vielen Jahrzehnten gewohnt hat. Zentimeter für Zentimeter schlurft die Greisin vor uns durch die Wohnung. Sie zeigt die Regenrinne, an der vor etwa siebzig Jahren Polizisten hochgestiegen sind. Sie geht selbst den Weg, den die Eindringlinge vom Fenster zum Bett genommen haben müssen. Sie erklärt, daß in diesem Bett ihre Großmutter ermordet wurde. Beim Reden öffnet sie kaum den Mund. Sie wirkt starr. Ihr Hals ist steif. Wenn sie sich dreht, dann mit dem ganzen Körper. Ihre Augen scheinen mehr nach innen als nach außen zu blicken. Sie schlägt ein Fotoalbum auf und beschreibt, mit zitterndem Finger über die Seiten wandernd, die Verfolgungsgeschichte jedes einzelnen Familienmitglieds und, soweit bekannt, die dazugehörige Todesart. Ihren leisen, beharrlichen Vortrag beendend, bittet sie mich zu unterschreiben, in einem Gästebuch. Nachdem ich ihren Wunsch erfüllt habe, sage ich noch: „Mir gefallen die Farben der Zimmer, die Wandfarben, das Blau und Gelb.“ Die alte Frau deutet ein Lächeln an. „Zwischendurch haben KGB- Funktionäre hier gewohnt, aber die Farben, die sind geblieben wie damals.“

Angeregt von unserem Besuch spricht Ludmilla in ihrer Schauspielschule vor einer Gruppe Koreaner über die Inszenierungen des Regisseurs, dessen ehemalige Wohnung wir besucht haben. Die koreanische Übersetzerin hat mit manchen Begriffen Schwierigkeiten. Als die Schüler gebeten werden, Fragen zu stellen, steht, nach langem Schweigen, einer auf und fragt, in welchem Theater dieser Regisseur jetzt arbeite. Später erklärt mir Ludmilla, die Koreaner würden das finanzielle Überleben der Schule sichern.

In einer Abstellkammer, wahrscheinlich das Lehrerzimmer, stellt sie mich der Schuldirektorin vor, eine charmante Generalin. Es stinkt betäubend nach Fisch, aber keiner scheint das wahrzunehmen. Die Nasen Moskaus können solche strengen Gerüche ignorieren. Während sich die Damen unterhalten, erschnüffle ich unauffällig die Geruchsquelle: frischer Tapetenkleister. Die Direktorin führt mich durch das Gebäude, in dem manche Räume so renovierungsbedürftig sind, daß sie nicht mehr benutzt werden können. In der Kantine, wo das Essen umsonst ausgegeben wird, springen einige Schüler beim Anblick der Leiterin soldatisch auf und grüßen im Chor, andere kümmern sich gar nicht um sie. Ich darf beim Unterricht der strengen und offenbar beliebten Dame zusehen. Schauspielschüler der ersten Klasse spielen „Szenen aus dem gesellschaftlichen Alltag“, die sie selbst gewählt haben: Bestechung auf der Polizeiwache, Scham beim Kondomkauf, Verlockung zum Diebstahl und Allüren einer Neuen Russin bei einer Wohnungsbesichtigung. Das Urteil der Generalin erschüttert oder erhebt. Es wird auch geweint, aber versteckt, im Hinterraum.

Auf dem Platz vor dem größten Theater Moskaus, wo ich mit einer Schauspielschülerin verabredet bin, spielt ein Blaskapelle. Nach einigem Suchen finde ich Asya, eine zierliche Frau mit hoher Stirn, trotzig vorgeschobener Unterlippe und schlagfertigem Amerikanisch. Das Theater wimmelt von Uniformen, Kriegsveteranen. Der Jahrestag des Sieges über die Deutschen wird gefeiert. Mehrere Militärs treten an die Rampe und halten Reden, während ich in einer Loge mit Asya flüsternd die deutsch-russische Freundschaft pflege. Von ihr erfahre ich, daß Ludmilla über zwanzig Jahre im Gulag verbracht hat. „Davor war sie eine wunderschöne junge Frau. Ihr Mann kam in einem anderen Lager um. Der Sohn, den man ihr als Baby weggenommen hat und der bei Adoptiveltern aufwuchs, wollte seine Mutter nach ihrer Entlassung nicht sehen.“ Ludmilla hat mir nichts davon erzählt. Schließlich verschwinden die Militärs hinter dem roten Vorhang, und als dieser sich öffnet, haben sie sich in Ballerinas verwandelt. Leise beschreibt Asya mir die technischen Unsauberkeiten der Tänzer, von denen die besten exiliert seien. „Auf dieser Bühne gibt es keine Leidenschaft mehr“, stellt sie zusammenfassend fest.

Nach dem Ballett fährt Asya mich in ein erst kürzlich eröffnetes Café mit erträglichen Preisen. Es mutet amerikanisch an. Meine Begleiterin nennt sich „a tough woman“ und gibt sich möglichst westlich. Sie erzählt mir, daß sie neben zwölf Stunden Schule am Tag mehrmals in der Woche als Tanzgirl in Diskotheken arbeite, um zu überleben. Die Lehrer dürften das nicht erfahren, sonst würde sie von der Schule fliegen. „Hat im Disco- Geschäft nicht die Mafia ihre Hand im Spiel?“ frage ich. „Natürlich.“ Asya lacht über meine Naivität. „Kannst du mich mit einem Mafioso bekannt machen?“ Sie schüttelt amüsiert den Kopf. „Ich habe zwar mal einen gekannt“, sagt sie, „aber der ist jetzt tot.“

Die russische Mafia versteckt sich nicht. Ihr Auftreten ist von B-Movies aus Hollywood geprägt: die Sonnenbrillen, die schwarzen Anzüge, der Fahrstil, sogar die Lässigkeit, mit der sie an ihren Limousinen lehnen, ist aus Filmen geliehen. „Vielleicht hast du nur die Chauffeure von Regierungskarossen gesehen, aber so groß ist der Unterschied nicht“, meint Ludmilla.

Als wir eines Abends aus dem Haus des Kritikers am Arbat kommen, sehen wir einen Schäferhund, der an die Heckstange eines Autos gebunden ist. Es fährt an und stoppt nach ein paar Metern. Die Beifahrertür geht auf, ein Mann schreit. Ich gehe, ohne zu überlegen, in Richtung des Autos, doch Ludmilla zieht mich in die andere Richtung, um die nächste Ecke. „Ich will nur schauen“, sage ich, doch sie läuft so schnell weiter, daß ich kaum Schritt halten kann.

Danach wünsche ich mir, eine Komödie zu sehen. Das Theater ist gut besucht, wie fast alle Bühnen der Stadt. Zunächst öffnet sich vor uns eine kahle Bühne, in der nur das Eisengestell eines Etagenbetts steht. Der Regisseur hat den Ort des Geschehens als Gefängnis interpretiert, was, so Ludmilla, in Moskauer Inszenierungen derzeit des öfteren vorkomme. Die Honoratioren eines verlotterten Kleinstädtchens erfahren vom bevorstehenden Besuch eines mächtigen Beamten, eines Revisors. Er soll inkognito kommen, vielleicht schon anwesend sein. Der Verdacht fällt auf den Falschen, der sich nach und nach in seiner furchterregenden Rolle immer besser zurechtfindet. Er wird nicht nur mit Geld, sondern auch mit Frau und Tochter bestochen. Die Virtuosität der Schaupieler macht die Angst vor der unumschränkten Macht körperlich spürbar. Das Gelächter der Zuschauer ist auch ein Gelächter über die eigene Angst. Der Auftritt des wahren Revisors läßt die Komödie im Schrecken enden.

Am 1. Mai findet eine große Demonstration statt. Sie zieht die sonnige Twerskaja hinunter Richtung Kreml. „Da ist der Politiker, dessen Partei im russischen Parlament die Mehrheit hat“, sagt Ludmilla. Sie deutet auf einen lächelnden Mann mit Schlägergesicht in der Mitte der ersten Reihe. Dahinter laufen ganz in Schwarz gekleidete Popen mit schweren Goldkreuzen um den Hals und verteilen antisemitische Flugblätter. Das Porträt eines toten Diktators vor sich hertragend, stelzt eine dürre Frau vorüber. Ein Mann mit gerötetem Gesicht, der Ludmilla und mich deutsch reden hört, fixiert uns eine Weile. Als meine Begleiterin das merkt, hat sie es eilig, weiterzugehen.

Während unseres Spaziergangs durch den Moskauer Frühling fällt der Theaterprofessorin ein, daß ich das Haus des Schauspielers noch nicht gesehen habe. Wir müßten nur eine etwa zehnspurige Straße überqueren und wären fast da. „Diese Straße kann man aber nicht überqueren“, behauptet Ludmilla. „Gibt es hier keinen Fußgängertunnel? Wie kommt man sonst rüber?“ frage ich. „Man muß dort geboren sein“, vermutet sie und beschreibt mir den komplizierten Umweg. Mitten in ihre Worte gehe ich einfach los, laufe auf die Straße, auf der kaum noch Spurmarkierungen zu sehen sind. Ludmilla ruft mir hinterher, aber kann mich nicht halten. Die Autofahrer sind wohl zu erstaunt, um zu hupen. Irgendein Engel führt mich unverletzt durch den Verkehr hinüber auf die andere Straßenseite. Erst zwanzig Minuten später ist Ludmilla bei mir.

Wir besichtigen ein stattliches Gebäude. Am Eingang sitzen drei Pförtner, die uns keines Blickes würdigen. Die Ausmaße der Treppen und Säle sagen uns, daß hier einmal Größen wandelten, aber zur Zeit scheinen sie abwesend. Vielleicht haben sich inzwischen alle auf jene Fotos gezwängt, die an den Korridorwänden hängen, würdevolle Menschen aus einer anderen Welt. „Die Kantine ist geschlossen“, übersetzt mir Ludmilla die mürrische Auskunft einer Putzfrau, die einen Besen vor sich herschiebt. Überall ist gut geheizt, wie in großer Erwartung. Schließlich finden wir ein besetztes Büro. Eine Dame mit vollem Mund lädt uns zu Kaffee und Plätzchen ein. „Gehälter werden seit Monaten nicht gezahlt“, sagt sie. „Ich komme nur manchmal, um die Stellung nicht zu verlieren.“ An der offenen Tür läuft kurz hereingrüßend ein Mann vorbei. „Wieso hat er es so eilig?“ fragt die kauende Dame über ihre Kaffeetasse hinweg. „Er verläßt das sinkende Schiff“, sagt Ludmilla und erklärt, zu mir gewandt: „Das war ein Schauspieler. Oder nein, das war der Schauspieler. Es heißt doch: Das Haus des Schauspielers, also Singular, und das war er.“ „Seit die Kantine zu ist“, sagt die Dame ungerührt, „kommt keiner mehr.“ Wir lächeln, trinken Kaffee und nicken uns zu.

Ein junger Franzose namens Jacques zeigt mir eine Kirche, die nach langer Zeit wieder von Gläubigen besucht wird. „Sie diente als Materiallager“, sagt Jacques, „jetzt wird sie renoviert.“ Jacques hat traurige Augen und lacht häufig. Er lebt seit zwei Jahren in der Nähe Moskaus, in einer Trabantenstadt, die als Standort der Nuklearforschung bekannt ist. Dort arbeitet er in einem kleinen Theater als Hausmeister. Er lacht auch, als ich ihn frage, was ihn in diesem radioaktiv verstrahlten Nest hält. „Das frage ich mich auch manchmal, wenn ich das Fenster öffne“, sagt er. „Es heißt ja, man könne Radioaktivität nicht wahrnehmen, aber das stimmt nicht. Ich spüre sie.“ Eine alte Frau setzt sich auf eine Betbank, trinkt Tee, der hier ausgeschenkt wird, und packt belegte Brote aus. Vor ihr kniet ein Mädchen mit Jeans und Kopftuch. „Auch in Moskau“, sagt Jacques, „gibt es mehr als dreihundert Stellen, an denen radioaktiver Abfall liegt, einfach hingekippt.“ Mehrmals küßt das Mädchen eine Ikone. „Aber trotz allem, hier habe ich meine besten Freunde gefunden. Die Russen wissen, was Freundschaft ist.“ Ein Pope redet laut mit zwei Malern, die an einem Gerüst lehnen. Wir verlassen die Kirche. Davor bieten fliegende Händler Ikonen zum Kauf. „Hier nennen mich alle den Franzosen. Was wäre ich denn in Frankreich? Nicht einmal der Franzose.“ Er lacht. Wir schlendern durch die Ausstellung russischer Heiliger auf Asphalt. Jacques ist ein Kenner von Kirchenkunst und kauft für mich, nach langem Feilschen, eines der Bilder.

Während ich meinen Koffer packe, zeige ich Ludmilla etwas beschämt das aus einer Kirchenwand herausgebrochene Holzbild. Sie schweigt dazu. „Willst du nicht mitkommen?“ frage ich sie. „Du bist doch auch eine Ikone. Dich kann man überall brauchen.“ Sie lacht, daß ihr fast die Brille von der Nase fällt. „In Deutschland kennt mich niemand“, sagt sie dann, aber ich lasse das nicht gelten: „Mit deinen Deutschkenntnissen kannst du dich überall bewerben.“ – „Das habe ich nicht gelernt, einen Menschen zu verkaufen. Auch wenn es sich um mich selbst handelt.“ Ich zucke mit den Achseln. „Soll ich denn“, fragt sie, „wie ein Hündchen irgendwelchen Dummköpfen beweisen, daß ich auf zwei Beinen laufen kann? Außerdem bin ich zu dick. Ich passe nicht in deinen Koffer.“