Das Land vor dem finanziellen Desaster, die Politik blockiert: Wer soll Rußland regieren? An machtbereiten Männern mangelt es nicht. Doch sie entstammen noch sozialistischen Zeiten. Das Personal der zweiten Reihe läßt kaum Optimismus aufkommen. Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Gestrige Mächtige für die morgige Macht

Rußlands Drama besteht nicht allein in der Finanz- und der ihr auf dem Fuße folgenden Staatskrise. Das derzeitige Chaos in Moskau offenbart viel mehr: Rußland hat es in sieben postsowjetischen Jahren nicht geschafft, eine neue politische Elite heranzuziehen, die die Modernisierung des Landes hätte mit vorantreiben können. Im Gegenteil: Die in Politik, Wirtschaft und Bildung herrschende Schicht rekrutiert sich fast ausschließlich aus Vertretern und Funktionären des sozialistischen Systems.

Statt jungen, auch im Westen ausgebildeten Fachleuten die Türen zu öffnen, halten die Alteingesessenen sie fern. Nur so hätte sich der erforderliche Umbau der politischen Institutionen bewerkstelligen und die Setzlinge einer neuen politischen Kultur pflanzen lassen. Statt dessen sehen die alten Machthaber in den neuen Experten eher Konkurrenten. Das Ringen um einen neuen Premier belegt, daß es in Rußland nur Machthabende, aber keine Elite gibt.

Mit der Entscheidung Präsident Jelzins, Viktor Tschernomyrdin ein zweites Mal für den Posten des Premierministers vorzuschlagen, erklärte nicht nur der Kremlchef, daß er mit seinem Latein am Ende ist. Er machte es stellvertretend für das gesamte Establishment. Sollte Tschernomyrdin am kommenden Montag zum zweitenmal Ministerpräsident werden, übernimmt ein Mann das sinkende Staatsschiff, der die alten Tugenden der Staatswirtschaft verkörpert.

Der ehemalige Chef des Rohstoffgiganten „Gasprom“ und sowjetische Energieminister schützte in den sechs Jahren seiner ersten Amtszeit den Energiesektor erfolgreich vor den Forderungen der reformorientierten Kräfte, die Monopole umzustrukturieren und sie finanziell stärker zur Ader zu lassen. Der hölzern wirkende Premier, der mit der freien Rede genauso auf Kriegsfuß steht wie Jelzin, dürfte kaum der Mann sein, der das Land aus der Krise führt. Schließlich hat er die Finanzpyramide, unter deren Trümmern Rußland liegt, selbst aufgetürmt. Weder ist es ihm gelungen, das Steuersystem zu reformieren, noch ging er entschlossen gegen die wuchernde Korruption vor. Tschernomyrdins Amtszeit bezeichnete sein Vorgänger Jegor Gaidar als „die teuerste Wirtschaftsausbildung in der Geschichte“.

Eins läßt sich dem untersetzten Schwergewicht indes nicht vorwerfen. Er ist kein Ideologe oder sturer Prinzipienreiter. Seine Stärke liegt im Organisieren und Ausführen von Befehlen. Doch wer sollte ihm heute, da Boris Jelzin das Ende seiner Amtszeit auf einer Regierungsdatscha absitzt, noch Aufträge erteilen?

Als Ersatzkandidat wird unterdessen Juri Luschkow gehandelt. Der Moskauer Bürgermeister hat zumindest in der hauptstädtischen Bevölkerung starken Rückhalt. Im Sommer 1996 wählte Moskau das politische Schwergewicht Luschkow mit über 90 Prozent in eine zweite Amtsperiode. Unter seiner Ägide hat sich das Antlitz der ehemals heruntergekommenen Sowjetmetropole verwandelt. Sogar ein Hauch Urbanität weht hier und dort. Die Moskauer nennen ihn anerkennend den chosain – einen starken und klug wirtschaftenden Hausherrn. Doch qualifiziert ihn das, das Land aus der Talsohle zu führen?

Geschicktes Wirtschaften erfordert in Moskau, wo 75 Prozent des landesweiten Kapitals residieren, keine ungeheuren Künste. Darüber hinaus hat der Stadtvater so etwas wie ein Syndikat Luschkow hochgezogen, dessen rigide Monopolisierung freier Marktwirtschaft Hohn spricht. Der machtbesessene Stadtpatron gibt sich indes als ein flammender Patriot. In Wirklichkeit ist er ein beißender Chauvinist, der den Zerfall des sowjetischen Imperiums nicht verkraftet hat. Wütende Ausfälle gegen den ukrainischen Nachbarn, dem er die Halbinsel Krim entreißen möchte, gehören ebenso zu seinem Repertoire wie öffentliche Hetze gegen russische Bürger aus dem Kaukasus. Zu seinen besten Freunden zählt ausgerechnet der weißrussische Diktator Lukaschenko. Sollte Luschkow in die Verantwortung kommen, würde der Mythos des florierenden Moskau rasch welken. Außenpolitisch brächen indes düstere Zeiten heran.

Schließlich macht sich auch der Kommunistenführer Gennadi Sjuganow noch Hoffnungen auf einen adäquaten Posten. Freilich möchte er gleich den Jelzinschen Thron. Der Kommunist konnte die postsowjetische Zeit unbeschadet überdauern. Auf sein politisches Verständnis hatte sie keine Wirkung. Er ist der Ideologe der Partei, der statt klassenkämpferischer Parolen chauvinistische Töne anschlägt und Rußlands Rettung in einer erneuten Isolation sieht. Wirtschaftspolitisch fehlt ihm jegliche Kompetenz. Insofern figuriert er als Abbild seiner Partei, die als fußlahme Opposition längst Teil des Establishments ist.

Eine der wenigen Ausnahmen dieses Establishments ist General a. D. Alexander Lebed. Im Mai wählte das sibirische Gebiet Krasnojarsk den Friedensmacher von Tschetschenien zum Gouverneur. Finanzmagnat Boris Beresowski soll den Wahlkampf finanziert haben. Nun besagen Gerüchte, der bärbeißige General sei die zweite Karte, die Königsmacher Beresowski ausspielen wird, wenn Tschernomyrdin nicht das Plazet der Duma erhält. Seit Lebed 1996 Jelzin mit seinen Stimmen zur Wiederwahl verhalf, hat der doppelschrötige Haudegen einiges an politischem Know-how dazugelernt. Auffallend bemüht sich Rußlands abgewirtschaftete politische Klasse inzwischen um dessen Gunst. Der moralische Saubermann zögert indes.

Als Militär räumte Lebed der Politik immer ein Primat gegenüber Gewalt ein. Als Soldat sei er kein Ministerpräsident für ruhige Zeiten, als Krisenpremier wäre er aber bereit zu wirken, bekundete Lebed Bereitschaft, die Vakanz zu besetzen. Inthronisiert hätte er die Legitimation, mit Korruption und Vetternwirtschaft aufzuräumen. Selbst ein flammender Patriot, läßt sich Lebed im Unterschied zu Luschkow von rationalen Überlegungen leiten. Insofern könnte er die zu erwartenden antiwestlichen Reaktionen, die der Krise zwangsläufig folgen, womöglich zu einem pragmatischen Dialog führen.

Im Wirtschaftsbereich fehlen ihm allerdings solide Kenntnisse. So halten Beobachter eine Koalition mit Grigori Jawlinski nicht für ausgeschlossen. Der Fraktionsführer der reformorientierten Partei Jabloko verdient als einzige Kraft im Parlament die Bezeichnung Opposition. Dieses Bündnis hätte vielleicht eine Chance, Rußland vor dem größten Übel zu bewahren. Nur deckt sich das nicht mit den Interessen des Establishments.