Irrer Onkel Lear

Experiment gelungen: „König Lear“ als trashige Komödie am Altonaer Theater  ■ Von Barbora Paluskova

Den Wahnsinn kann man fürchten, muß man aber nicht. König Lear ist vermutlich abertausendfach als tragisches, durch Nacht und Nebel irrendes Schreckge-spenst vorgeführt worden. Nun hat das Altonaer Theater mit dem Trauerspiel die neue Spielzeit eröffnet, und hier wird der törichte Vater, der sein Reich zur Unzeit an die falschen Töchter verteilt, ganz anders interpretiert. Denn in der Inszenierung des Intendanten Axel Schneider ist das Stück, dem „fast ein Übermaß an tragischem Geschehen“ innewohnt, wie Reclams Schauspielführer bescheinigt, aufregend, spannend, sympathisch – und hochgradig komisch.

Die Sympathie muß sich Schneiders König Lear allerdings schwer erkämpfen. Zunächst sind viele innere Widerstände zu überwinden: Man braucht ja zum Beispiel in einem guten Theaterstück die Darsteller nicht in aufwendige Brokatfummel zu stecken. Aber man kann es tun, und die Kostüme von Daniela Kock sind wunderschön. Auch die Bühne von Ulrike Engelbrecht ist, obwohl abstrakt gehalten, ziemlich bombastisch aufgebaut. Doch wenn zum Schluß des ersten Teils eine riesige Wand im Hintergrund krachend umfällt und einen kleinen Sandsturm im Saal enfesselt, kann sich niemand dem Schrecken entziehen. Sogar das Kunstblut, das dem geblendeten Grafen von Gloster aus den Augenhöhlen spritzt, wird zu einer Provokation, denn im Grunde ist es natürlich lächerlich, so tief in die Mottenkiste der Theater-Effekte zu greifen. Aber wer sagt, daß man vor einem Klassiker Respekt haben muß? Axel Schneiders König Lear ist Trash, teurer zwar, aber lustiger.

All diese Rahmenbedingngen wären jedoch für die Katz, wenn das Ensemble sie nicht nutzen würde. Dessen Leistung ist sehr heterogen, und manchmal ist es arg schwierig nachzuvollziehen, was denn all die Schurken und gemeinen Damen zu ihrem Ränkespiel motiviert. Doch Niels Hansen zeigt als irrer Onkel Lear, daß er ein großes komisches Talent hat. Mehr noch: Wenn er mit Kent (Franz-Joseph Dieken), dem Narren und Edgar im Schlepptau durch die Heide stolpert, kommt sogar ein Hauch von Tragik auf. Und wenn Andrea Lüdke aus dem Narrenkostüm wieder in die Rolle der Cordelia schlüpft, genügen ihr und Dieken fünf Minuten und drei Seitenblicke, um eine wundervolle Liebesgeschichte aufzubauen.

Diese fünf Minuten sind, ganz ohne Ironie, großartiges Theater. Man hätte sie nicht in das dreistündige groteske Spektakel packen müssen. Doch sie beweisen, neben einigen anderen Augenblicken, daß Shakespeare im Altonaer Theater eben doch ernstgenommen wird. Und entschädigen für so manchen Moment, in dem die Grenze zur Klamotte überschritten wurde.