Sturm in der Wohnküche

■ Her mit den kleinen Engländern! Junges britisches Theater boomt. Sogar die ehrwürdigen Berliner Festwochen wollen mit Mark Ravenhills "Handbag" ein wenig sexy Frische tanken

Älteren Theaterbesuchern muß das wie ein Déjà-vu vorkommen: Ein Londoner Privattheater bringt plötzlich massenhaft Erfolgsautoren hervor, mit Stücken aus dem Wohnküchenmilieu der Underdogs, die in Deutschland begeistert nachgespielt werden. Manchmal von jungen und unbekannten Regisseuren, die später ziemlich berühmt werden.

Das Londoner Theater, von dem die Rede ist, heißt Royal Court Theater. 1956 war es noch jung und stand kurz vor der Pleite. Man inserierte in einer Fachzeitung, jedes neue Stück innerhalb von zehn Tagen entweder abzulehnen oder zu kaufen. Das las ein junger Autor, dessen Stück bereits von sämtlichen wichtigen Theateragenten Londons abgelehnt worden war. Er schickte sein Stück. Es wurde genommen. Und damit war – so will es die Legende – das Theater vor dem Bankrott gerettet und der Autor ein Star: John Osborne mit „Blick zurück im Zorn“. Ein paar Jahre später entdeckte das Royal Court Theater Edward Bond (mit der deutschen Erstaufführung von „Gerettet“ machte 1967 Peter Stein in München Furore) und im Gefolge noch eine ganze Reihe junger, zorniger Dramatiker, die inzwischen längst wieder vergessen sind.

Vierzig Jahre danach pflasterte dasselbe Theater London mit Plakaten: „Write a play!“ Mit dem Erfolg, daß das Royal Court Theater prompt zur Spielstätte einer neuen Dramatikergeneration avancierte, einer Generation, deren Stücke ziemlich kongenial zwischen radikaler Zeitgenossenschaft und radical chic balancieren. Stücke mit Titeln, die der normale Theaterbesucher mitunter kaum zu flüstern wagt. Nun ist das englische Gegenwartstheater über die im Koma liegende deutsche Theaterlandschaft hereingebrochen wie ein Sturm. Sogar die ehrwürdigen Berliner Festwochen stellen es in diesem Jahr in den Mittelpunkt ihres Theaterprogramms.

Mit der Actors Touring Company kam aus London auch Mark Ravenhill, einer der Stars unter Englands Jungdramatikern, der in Berlin als work in progress sein neues Stück „Handbag“ präsentierte. Ravenhill zeigt sich sehr trendy, in martialisch-modischem Outfit: Glatze und Armeeklamotten. Damit kokettiert er, ganz wie früher Marlon Brando mit der speckigen Lederjacke oder James Dean mit der Zigarette im Mundwinkel. Ein Held der Selbstinszenierung. Von außen angry young man. Dahinter schon ganz everybody's darling.

Im Festwochenprogramm wurde Minderjährigen dringend davon abgeraten, die Inszenierug von Nick Philippou zu besuchen. Aber nach zwanzig Minuten sind wir mitten im Weihnachtsmärchen angekommen. Zwei Damen in dunklen viktorianischen Kostümen (Celia Robertson und Faith Flint) streiten am Bahnhof um vertauschtes Gepäck. Sie stammen aus Oscar Wildes „Bunbury“, das Mark Ravenhill zu „Handbag“ inspirierte. Die beiden zetern wie die Hühner und rascheln mit den Unterröcken.

Noch anderes, historisch kostümiertes Personal tritt auf, um die Verwandtschaft des heutigen Zeitalters mit dem viktorianischen zu behaupten – wo reiche Bürger Herzen aus Stein hatten und nur echte Proleten wirklich fühlten. Ein steifes Elternpaar, daß sein Kind einer Gouvernante übergibt, die es mit dem Manuskript, an dem sie schreibt, verwechselt. Der Leiter eines Waisenhauses, der seine Zöglinge sexuell mißbraucht und dem die Gouvernante zuletzt das ungeliebte Baby in einer Handtasche übergibt.

Im Mittelpunkt stehen allerding ein schwules und ein lesbisches Paar von heute, die unbedingt ein Kind wollen. So spendet Tom (Tim Crouch) seinen Samen in einer Espressotasse, und Mauretta (Celia Robertson) läßt sich damit befruchten. Aber natürlich klappt das nicht mit dem Familienglück zu fünft. Das Kind ist bald tot, das Männerpaar schon vorher längst auseinander. Sechs Schauspieler in wechselnden Kostümen und Epochen erzählen von der Gefühlsunfähigkeit von damals, der Beziehungsunfähigkeit von heute, von Klassenunterschieden damals und jetzt. Sie tun das in locker geschriebenen Dialogen ohne besondere Tiefenschärfe. Die Leute werden aus-, nicht dargestellt. Witzige Abziehbilder und Klischees, sonst nichts. Der Mann auf dem Platz neben mir ist sehr verwirrt. Das soll nun die Avantgarde sein! So was kennt er sonst nur aus dem Boulevardtheater.

Gut, es gibt heftigen Sex von Mann zu Mann, hin und wieder auch von Mann zu Frau. Man kann, wenn man will, sicher eine Menge daraus lernen über die Abgründe von Leuten, über die man sonst bloß in der Zeitung ließt. Doch aus der radikalen Pose des Stückes schält sich bei näherem Hinsehen die urkonservative Sehnsucht nach der heilen Welt heraus. Nach einer Gesellschaft, wo Klassen- und Geschlechtsunterschiede noch verbindlich sind. Verhältnissen, wo Schwule und Lesben eben kein Kind im Reagenzglas zeugen können, um das sie sich dann gar nicht kümmern, weil sie längst woanders herumvögeln oder irgendwelchen hohlen Tätigkeiten in Werbeagenturen nachgehen. Ein Kind, dessen Erziehung sie deshalb einem ausgebeuteten Kindermädchen überlassen, in dessen Obhut es schließlich zu Tode kommt.

Das Leben in der offenen Gesellschaft ist halt anstrengend, und mit der Freiheit kann auch nicht jeder umgehen. Aber ich könnte mir vorstellen, daß man darüber bessere Stücke schreiben kann. Esther Slevogt